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Wissenschaft zwischen Regionalisierung und Globalisierung

Roland Benedikter

EINLEITUNG

Wohin kann sich regionale angewandte Wissenschaft in Südtirol unter dem steigenden Druck von Globalisierungswirkungen bewegen? Fünf Dimensionen sind zur Beantwortung dieser Frage beachtenswert: der Strukturwandel der Wissenschaft, die Veränderung akademischer Arbeitsformen, die zunehmende Bedeutung globaler Themen für regionale Forschung, die Datenrevolution und die neue Hinwendung von Wissenschaft zur Gesellschaft. Laut Experten sollte der interdisziplinäre Think-Tank-Charakter territorialer Forschung gestärkt und die Anbindung lokaler und regionaler an internationale und globale Themen mit Augenmaß und Realismus gestärkt und weiterentwickelt werden.

Die Europäische Akademie Bozen (Eurac Research) ist für eine erfolgreiche Entwicklung in diese Richtung seit Jahren Beispiel. An Südtirols Kern-Forschungszentrum wurden schon vor einiger Zeit die Weichen für eine künftig immer stärker „glokale“ Rolle umfeld- und kontextbezogener Wissenschaft und Forschung gestellt. Dies unter anderem durch die Einführung „intelligenter Arbeit“, den Fokus auf inter- und transdisziplinäre und oft auch institutsübergreifende Themen, und die Konzentration auf einzelne, ausgewählte „Moonshots“ wie die „Klimakammer“ terraXcube oder die regionale Biomedizin mit internationaler und globaler Vernetzung. Die Vision für die kommenden Jahre ist klar: Europa braucht für einen weiterhin erfolgreichen Katalysatoren-Prozess von Wissenschaft für Gesellschaft moderne, flexible Forschungseinrichtungen mit globalen Arbeitsformen und einer realistischen Anbindung regionaler Expertise an globale Entwicklungen. Umgekehrt werden praktische lokale und regionale Wissenschaftserfahrungen für eine bessere Kontextualisierung der Globalisierung und ihre anstehende Reform im Rahmen einer „Re-Globalisierung“ immer wichtiger. Eurac Research hat an dieser Entwicklung zukunftsorientierter „glokaler“ Wissenschaft wesentlich Anteil – in Südtirol, aber auch über Südtirol hinaus.

DAS ZEITMOTIV: DIE VERSCHIEBUNG ZUM „GLOKALEN“

Seit Jahren drängt das Globale immer stärker in regionale und lokale Lebensrealitäten – so auch in Südtirol. Neue Dynamiken rühren nicht nur von gehäuft auftretenden nationalen und internationalen ökonomischen und finanziellen Krisen und dem großen Bruch der Covid-19-Pandemie. Wir sehen auch weiterhin zunehmende Migration in unseren Straßen. Die Effekte des Klimawandels werden sichtbarer. Die Veränderung von Tourismus und Landwirtschaft ist im Gang. Neue politische Randbewegungen, die sich in einer Reihe von Nationen ausbreiten, stellen das europäische Einigungsprojekt in Frage. Von dessen Scheitern wären die Südtiroler Autonomie und damit auch lokale Stabilität und Wohlstand stark betroffen. Neue Technologien verändern Sozialpsychologie und Wählerverhalten, eröffnen aber auch neue Weisen dezentraler Vertrauensbildung und Regierens. Autoritäre Staaten expandieren in Weisen, die an das 18. und 19. Jahrhundert erinnern und überziehen Regionen mit nicht mehr für möglich gehaltenen Kriegen, womit sie ganze Friedensordnungen sowie die Eckpfeiler internationaler Stabilität außer Kraft setzen. Ungleichheiten nehmen zu, was neue Ausgleichsmechanismen herausfordert. Energieabhängigkeiten und Systemrivalitäten verstärken die Unterschiede zwischen geographischen Regionen und Einflusssphären, die zugleich durch die Globalisierung in Infrastrukturen, Warenflüssen und Mobilitäten eng verwoben sind. Eine neue globale Grund-Spaltung zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien baut sich auf, die auch eine grundlegende ideologische Dichotomie einschließt, ein neues Gleichgewicht des Misstrauens erzeugt und globale und internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder NGOs schwächt.

Viele dieser Entwicklungen wirken ineinander. Keine von ihnen, geschweige denn ihre Summe, können regionale Gemeinschaften allein bewältigen. Südtirol ist – wie andere europäische Regionen – gut beraten, sie in ihren Ursachen Ernst und in ihren Auswirkungen vorwegzunehmen sowie sie möglichst aktiv mitzuvollziehen. Das war und ist längst nicht mehr nur eine Herausforderung von autonomer Regierung und Verwaltung, sondern – mit zunehmendem Gewicht – auch eine Aufgabe von Wissenschaft. Vor 30 Jahren war die Landesverwaltung sowohl intellektueller Kern als auch Handlungszentrum des Landes. Sie hatte vieles gleichzeitig zu schultern. Inzwischen hat sich das Gewicht auf mehrere Schultern verteilt. Wissenschaft ist seit Gründung von Eurac Research 1992 und der Freien Universität Bozen 1997 ähnlich wichtig geworden wie die Autonomieverwaltung, die nach wie vor in vielen Bereichen sachlich vorbildlich arbeitet. Sie kann nun auf die Zusammenarbeit verschiedener Akteure bauen – zumindest, wenn es um die Verbindung drängender Zukunftsfragen mit einer inklusiven, gerechten Gesellschaftsentwicklung vor Ort geht. Die Mitarbeit von Wissenschaft an der Zukunftsgestaltung ist eine der wichtigsten Veränderungen, die unser Land in den vergangenen Jahren mit geformt hat.

In diesem Entwicklungs- und Veränderungsprozess kam, wie die Geschichte gezeigt hat, einem Wissenschaftsakteur eine Kernrolle zu. Am 8. April 2022 begeht Eurac Research in Bozen seinen 30. Geburtstag. Vom Forschungszentrum an der Verbindungsnaht zwischen alter und neuer Stadt ging die Entwicklung Südtiroler Wissenschaft vor 30 Jahren aus. Aus Eurac Research heraus entstand auf der einen Seite Spitzenforschung, auf der anderen Seite die Freie Universität Bozen, die heute gut gerankt ist.

Seitdem hat sich in der Versachlichung und Beschleunigung von Landesentwicklungsthemen sogar noch mehr getan, als anfangs erhofft. Südtirol ist reicher geworden an Wissen, an sachlicher Auseinandersetzung und begabten Menschen, die hierbleiben oder hierherkommen. Es ist reicher geworden an Visionen und Energie. Die überregionale Vernetzung ist gestiegen – und so auch der (selbst-)kritische und kreative Geist. Wissenschaft ist Anziehungspunkt und Bindemittel geworden, das kaum mehr aus dem intellektuellen Leben wegzudenken ist. Junge und erfahrene Akademikerinnen und Akademiker bleiben im Land oder kommen zurück, weil sie hier forschen, öffentliche Impulse geben, mit Denken und Ideen Lebenswelten und Realitäten mitgestalten können.

Zu prognostizieren, was uns in den kommenden Jahren ganz grundsätzlich erwartet, ist also zunächst – zumindest auf den ersten Blick – nicht besonders schwer. Die von der Wissenschaft Angezogenen, die Wissensdurstigen, die nach vielen Seiten Neugierigen werden in den kommenden Jahren dabei helfen, ein „glokaleres“ Bewusstsein zu entwickeln und dieses in Südtirol zu verankern. Das hat mit Wissen, mit neuen Technologien, mit stärkerer internationaler Vernetzung zu tun. Und es hat mit der Freude an Anwendung und Umsetzung zu tun, was das autonome Südtirol in ausgewählten Bereichen zur experimentellen Modellregion im höchst produktiven Dreiländereck Italien-Österreich-Schweiz im Zentrum Europas machen kann.

Dazu müssen lokale Akteure freilich auf der Grundlage regionaler Forschung immer wieder die großen Zukunftsfragen und ihren regionalen Bezug bestimmen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen sich gleichzeitig fragen, wohin sich die im Land entwickelte Wissenschaft selbst bewegen kann – und wohin sie gehen sollte. Wir brauchen zur Beantwortung dieser (unglaublich weitreichenden) Fragen die Kombination solider regionaler Verankerung mit dem „glokalisierten“ Blick der „big science“: der Weltwissenschaft, die sich aus vielen einzelnen, regionalen und nationalen Wissenschaften zusammensetzt, aber mehr ist als die Summe ihrer Teile. Wo können, wo werden „glokale“ Wissenschaftseinrichtungen wie Eurac Research und Universität in 30 Jahren stehen?

FÜNF VERÄNDERUNGSMUSTER

Fünf große Schwerpunkt- und Trend-Verschiebungen geben sich zu erkennen.

Erstens: der Strukturwandel der Wissenschaft. Er wird an Südtirol auch weiterhin nicht vorbeigehen und wurde von Eurac Research kontinuierlich in die Entwicklungsausrichtung aufgenommen. Bereits 1994 verkündete der britische Wissenssoziologe Michael Gibbons in seinem Buch „Die neue Wissensproduktion“ in visionärer Vorausschau, dass „die Gegenwartsgesellschaft von der radikalen Infragestellung herkömmlicher Grenzen und hieraus resultierenden Verunsicherungen geprägt“ sein und die gesellschaftliche Verantwortlichkeit der Forscherinnen und Forscher stärken würde.1

Das Verhältnis zwischen Eurac Research und Universität spiegelt auch in Südtirol – nach mehreren Jahrzehnten gemeinsamer Entstehungsgeschichte – manche dieser Grundsatztrends wider. Die Universität scheint eher zur Lehreinrichtung zu werden. Raison d’être von Universität ist die Bildung und Ausbildung junger Menschen. Sie kann das jedoch nur dann auf höchstem Niveau bewerkstelligen, wenn auch die Forschung in ihrem Umfeld auf hohem Niveau ist. Angewandte Spitzenforschung findet auch in Südtirol in problemorientierten und deshalb inter- und transdisziplinären Forschungseinrichtungen statt. Diese Entwicklung wird sich künftig verstärken. Wissensproduktion wird think-tank-artiger, also bereichs- und fachübergreifender, multidisziplinärer, ganzheitlicher, flexibler und schneller an neue Herausforderungen anpassbar, unternehmens-, wirtschafts- und anwendungsorientierter. Dieser Trend wird weitergehen, wenn die Bürokratie dies fördert statt verhindert, wobei es auch hierzulande ständig neue Kooperationen zwischen Lehre und Forschung geben soll und wird, weil nur das dem Geist der Humboldt-Universität, also dem Urbild der Wissensmoderne, entspricht.

Zweite Verschiebung: die Veränderung wissenschaftlicher Arbeitsformen. Stichworte wie „smart work“ – ortsunabhängiges und flexibles, „intelligentes“ Arbeiten mittels Internet –, offener Campus, Gemeinschaftsorientierung (community networking) und Standort-Transversalität signalisieren, dass der klassische akademische Arbeitsplatz der Vergangenheit angehört. Wissensarbeit kann flexibel und transversal sein und überall geleistet werden, solange sie Leistung bringt und ihre Ziele erreicht. Die Stanford-Universität zum Beispiel hat bereits seit den 2010er Jahren einen Großteil ihrer Forschung und Lehre vorzugsweise in Kooperation verschiedener Forschender und Disziplinen im Internet virtualisiert – und damit für ihre Studierenden weltweit zugänglich gemacht, rund um die Uhr und unabhängig von Anwesenheits-, Reise- und Aufenthaltskosten. Im Gefolge der globalen Covid-19-Systemkrise sind viele diesem Beispiel gefolgt, und die Umstellung auf neue Arbeitsformen, darunter virtuelle und hybride Formate, wurde endemisch. Allerdings sollte die menschliche Begegnung, die traditionell im Zentrum des akademischen Austauschs steht, dabei nicht verschwinden. Nach dem Wunsch vieler Forschenden sollte sie künftig noch bewusster gepflegt werden – gerade nach dem großen, wahrscheinlich zumindest zum Teil nicht mehr rückgängig zu machenden Online- und Virtualisierungsschub seit 2019.

Drittens: die Verschiebung der Inhalte. Das Verhältnis zwischen Ganzem und Einzelnem ändert sich. Wenn das Globale immer stärker ins Lokale und Regionale hineinwirkt, dann wird „glokal“ – nach vielen Jahren, in denen es wenig mehr als nur ein Slogan war – nun tatsächlich zum Leitbild einer neuen Mitte, in der sich Wissenschaft ansiedeln kann. Formen dafür muss jeder regionale Kontext trotz der Existenz einiger allgemeingültiger Parameter und Indikatoren letztlich für sich selbst und für seine eigenen Anforderungen entwickeln. Viele Regionen sind hier noch am Anfang. Eurac Research mit seinem hohen Prozentsatz von auf Wettbewerbsebene finanzierten Projekten samt dazugehörigen „glokalen“ Entwürfen und Visionen hat hier jedoch bereits seit Jahren Maßstäbe gesetzt – und inzwischen einen Reifezustand erreicht, der auch viele EU-Gelder am Schnittpunkt zwischen global und lokal nach Südtirol bringt.

Viertens gehört zur Grundlagenveränderung die globale Datenrevolution, manchmal auch als „Big Data“ bezeichnet. Ihren in den kommenden Jahren umwälzenden Einfluss auf die Veränderung von Wissenschaft und Gesellschaft können wir heute erst anfänglich in der vollen Tiefe und Breite absehen. Es geht jedenfalls in eine klar erkennbare Richtung: „The New Big Science – Linking data to understand people in context“.

Damit ist die Kombination von Automatisierung, Maschinenlernen und Künstlicher Intelligenz (KI) mit riesigen, dauerhaft abgespeicherten und also virtuell „universal“ vorhandenen Vergleichs- und Kumulationsdatenmengen gemeint. Die automatisierte Kombination an sich heterogener Datenmengen über Raum und Zeit hinweg (also synchron und diachron), einschließlich ihrer Primärklassifizierung, produziert selbsttätig neue, „höhere“ Daten. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten auf den Gebieten von Medizin, Umwelt, Ungleichheitsforschung und Mobilität.

Es geht hier im Wesentlichen um eine Neuentfaltung von Wissenschaft: Mikro- und Meso-Daten werden flächendeckend mit „big picture“-Vergleichs- und Integrationshorizonten (Makro-„blueprints“) abgeglichen, unter anderem durch den automatisierten Vergleich sowie die gegenseitige Korrektur und Ergänzung von Untersuchungen wie auch durch die vergleichende Klassifizierung der entsprechenden lokalen, nationalen und internationalen Standards. Ein Beispiel: Eine seltene Krankheit wird heilbar, weil in kürzester Zeit automatisch Millionen von Vergleichsdaten, einschließlich erfolgloser und erfolgreicher Heilungsversuche, punktgenau und fallorientiert weltweit erfassbar und vergleichbar sind. Dabei werden Alters-, Geschlechts-, Generations-, Kultur-, Sozial- und Kontextfaktoren eines Krankheits- und Heilungsverlaufs transnational erfasst und automatisiert einbezogen.

Fünftens und letztens: Die neue Hinwendung von Wissenschaft zur Gesellschaft. Wissenschaft verlässt, ob sie das will oder nicht, unter „glokalen“ Bedingungen tendenziell den Elfenbeinturm und wendet sich immer stärker Gesellschaftsprozessen vor Ort zu. Sie betrachtet alles im unaufhörlichen hermeneutischen Zirkel zwischen „Ganzem“ und „Teil“, „überall“ und „hier“, „allgemein“ und „besonders“. Und sie bewirkt mit solcher Sichtweise auch eine Stärkung der kritischen Mitte globalisierter Gesellschaften in Zeiten der Polarisierung. Das gilt auch für die demokratischen Wohlfahrtsgesellschaften Europas. In der neuen Landesdachstrategie Südtirols, der Nachhaltigkeitsstrategie vom März 2019, die sich eng an die UNO-Agenda 2030 und die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs) orientiert, wird dies im Strategiepapier vom Juli 2021 mit dem Motto unterstrichen: „Raus aus den Silos!“2 Oder wie es der Präsident von Eurac Research Roland Psenner im Mai 2017 ausdrückte: „Wissenschaft und Forschung kommt eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, ein Gleichgewicht zwischen Wachstum und Lebensqualität zu finden – etwa zwischen der wirtschaftlichen Nutzung natürlicher Ressourcen und dem Umweltschutz. Forschung trägt ganz direkt zum Wohlergehen der Gesellschaft bei: Wenn sie Modelle des Zusammenlebens erarbeitet, die Minderheiten ihre Rechte garantieren zum Beispiel, oder durch epidemiologische Studien die Gesundheit der Bevölkerung verbessert. Wir dürfen in unserer wissenschaftlichen Arbeit nie die Bedürfnisse der Menschen aus den Augen verlieren. Wissenschaftlicher Erfolg ist wertlos, wenn er nicht dem Wohlergehen der Gesellschaft dient.“3

Grundlagenforschung findet zwar selten unmittelbaren Niederschlag in sozialer Wohlfahrt. Doch das sollte uns in Südtirol mit seinen ausgeprägten sozialen Sicherungssystemen nicht entmutigen. Phantasie spielt für wissenschaftliche Erkenntnisse eine große Rolle – ist aber nicht konkret auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen hin plan- oder messbar. Das sind jedoch keine Argumente gegen Gesellschaftsrelevanz oder den sozialen Messbarkeitsanspruch der Effekte von Wissenschaft auf ein Territorium und dessen Entwicklung. Wissenschaft hat eine viel größere Bandbreite an Seiten- und Zusatzeffekten, als den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst oft bewusst ist. Sie bewirkt über kurz oder lang einen Systemfortschritt, sei er nun unmittelbar und direkt messbar oder nicht.

WELCHEN HERAUSFORDERUNGEN MUSS SICH DIE SÜDTIROLER WISSENSCHAFT IN ZUKUNFT STELLEN?

Welche Folgen ergeben sich vor diesem Hintergrund für die Zukunft angewandter Sozialwissenschaften in Südtirol? Was sind die Anforderungen, denen wir uns – nach 30 wegweisenden und erfolgreichen Jahren Eurac Research – in den kommenden Jahren stellen müssen?

Zweifellos werden Mehrdimensionalität und Öffnung für den „glokalen“ Zusammenhang regionaler Forschungseinrichtungen wichtiger. Dazu gehören Einzelaspekte, die zusammenwirken und sich mittel- bis langfristig gegenseitig verstärken. Darunter sind wie gesehen:

  • die Stärkung des Think-Tank- und Hybrid-Charakters angewandter Wissenschaftseinrichtungen;

  • die Umstellung auf neue Arbeitsformen: smart work, Campus-Charakter, community-approach;

  • das bewusste Gleichgewicht zwischen lokal und international auch im Sinn einer „Vermittung“ gesellschaftlicher Debatten.

Wenn glokales Bewusstsein zum Bestandteil, in vielen Bereichen sogar zur Voraussetzung regionalen und lokalen Wohlstands wird, muss das Einzelne behutsam mit dem Ganzen verbunden werden, ohne den im Kern lokalen und regionalen Anwendungscharakter von Forschung grundlegend zu verändern. Eine Themenverknüpfung von lokal und global zu „glokal“ kann zum Beispiel die neue Zentrumsrolle von Technologie (Digitalisierung) für alle Bereiche darstellen. Es geht um das Mitspielen Südtirols bei den großen Technik-Mensch-Gesellschaftsmotoren der Zukunft. Das sind im Wesentlichen die „vier M’s“: Medizin, Mobilität, Mensch-Maschine-Konvergenz, Maschine-Künstliche-Intelligenz-Anwendungen.

Der NOI Techpark Südtirol/Alto Adige, der im Auftrag der Landesregierung im Herbst 2017 in Bozen eröffnet wurde4, ist hier genau zur rechten Zeit gekommen. Er kann in den kommenden Jahren verstärkt eine Scharnierrolle einnehmen, die Lokales und Globales praxisorientiert verbindet. Denn Technologie rückt, gemeinsam mit Fragen der Demographie, weltweit immer stärker in die Mitte aller anderen Gesellschaftsfelder. Technologie wird in den kommenden Jahren Politik, Wirtschaft und Kultur zunehmend prägen – und diese Bereiche an Übergängen, Schnittstellen, Transfermechanismen und Brückenanwendungen sowohl ausdifferenzieren wie zusammenbringen, teilweise vielleicht sogar hybridisieren oder homogenisieren. Dabei wird viel kreatives Potential freigesetzt. Der NOI Techpark kann, durch Beteiligung von Eurac Research, Universität, anderen Forschungseinrichtungen und der Südtiroler Bevölkerung, als Plattform, Umschlagspunkt und Katalysator für Innovation wirken. Er ist eine „Stadt in der Stadt“, die Diversität und Ungeahntes anzieht und für ihre Umgebung Leben produziert. Er kann sein Umfeld inspirieren – und die Stadt Bozen und das Land nachhaltig und immer neu mit „hybriden“ Ideen aus einer Mischung von Start-ups, Etablierten, Rollenbrecherinnen, Erfahrenen und Weisen „infizieren“. Die Zusammenarbeit von Eurac Research und NOI Techpark kann unterschiedliche Akteure auch mit Regierungs- und Verwaltungsherausforderungen des Landes zusammenführen, um gemeinsam die Entwicklung Südtirols mitzugestalten.

DIE ATTRAKTIVITÄT EINER HYBRIDSTRATEGIE

Welche Entwicklungsstrategie ist für Wissenschaft in Südtirol bis 2030 sinnvoll, um die in seiner Nachhaltigkeitsstrategie verankerten 17 globalen Ziele für Nachhaltige Entwicklung der UN-Agenda 2030 tatsächlich zu verwirklichen?

Hier wird es in erster Linie wichtig sein, eine Hybridstrategie nicht nur zwischen regional und global, sondern auch zwischen normativ und explorativ zu fahren. Neben der „Glokalisierung“ geht es im Forschungsansatz also auch darum, normative durch explorative Ansätze zu ergänzen, zu verbinden und zu integrieren. Die Frage: „Welche Zukunft wollen wir?“ (normativ) sollte um die (explorative, also offenere) Frage: „Welche Zukunft kann und wird sein, unabhängig davon, ob wir sie wollen oder nicht?“ ergänzt werden.

Damit ist eine Grundsatz-Öffnung verbunden. Beide Seiten des Atlantiks, Europa und die USA, müssen sich, um diese Öffnung realistisch (und eben nicht nur idealistisch) zu leisten, gegenseitig in ihren Paradigmen-Neigungen ergänzen. Während die USA als Wissenschafts- und Innovationsweltmeister es mit explorativ-offenen Ansätzen übertreiben und sich – auch wegen ihres Prinzips „kleiner Regierung“ – eher zu wenig um eine transsektoral wünschenswerte Zukunft kümmern, ist es in Europa eher umgekehrt. Wir fragen – idealistisch angetrieben – in stark normativer Blickrichtung danach, welche Zukunft sein soll, vernachlässigen dabei aber zuweilen die Unerhörtheit des Möglichen, des Unerwarteten und des Undenkbaren, das sich keiner Norm fügt. Beide – normative und explorative Ansätze – sollten in den kommenden Jahren auf eine neue Mitte hin ausbalanciert werden. Das Feld des „Foresight“, also der Vorausschau auf Optionen emergierender Felder, könnte dabei zur umfassenden Leitmethodologie werden – auch in politischen Gestaltungszusammenhängen und in der Förderungsausrichtung von Wissenschaft. Dies unter anderem mittels der noch weitergehenden Förderung der Anwendung des Dreiklangs von 1. Delphi-Methode, 2. Datenprojektionsanalyse und 3. „horizon scanning“, die bereits heute in Gebrauch sind. Der Anschluss an die UNESCO-Zukunftsstrategie 2022–29,5 also an den spezifischen wissenschafts- und bildungsorientierten Teilbereich der UNO-Nachhaltigkeitsagenda 2030, kann Südtirols internationale Einbettung stärken und zugleich die zwei wichtigsten territorialen Zukunftsprojektionen – die Nachhaltigkeits-Dachstrategie sowie die RIS3-Strategie des Landes (Regional Innovation Smart Specialization Strategy) – festigen und untermauern.

Zweitens könnten bisherige Südtiroler Strategien kontinuierlicher Entwicklung, die im Wesentlichen die europäische Wissenschaftsmentalität widerspiegeln, um – im Kern trans-europäisch gedachte – „Moonshots“ ergänzt werden. „Moonshots“ heißt die wagemutige Anknüpfung lokaler Akteurinnen und Akteure an Herausforderungen der Menschheit in ausgewählten Bereichen. „Moonshots“ sind große Blicke in die Zukunft auf der Grundlage lokaler Expertise, die nicht nur auf das praktisch Mögliche, sondern, gemeinsam mit nicht-lokalen Akteuren, mehr oder weniger unverhohlen „auf den Mond“ zielen. Sie versuchen – mit Abenteuerdrang und ein wenig Übermut, aber gegründet auf lokale wissenschaftliche Erfahrung – den Blick auf Schlüsselthemen. Wir glauben in Südtirol wegen unserer regionalen Verankerung oft allzu bescheiden, solche Moonshots seien von unserer Realität weit entfernt. Aber das stimmt nicht: Sie kommen immer näher.

Das hat – um nur ein aktuelles, wenn auch etwas „abgehobenes“ Beispiel zu nennen – die weltweit erste Cyborg-Olympiade gezeigt, also eine Olympiade von Menschen, deren Körper und Bewusstseinsprozess direkter als bisher mit Technik verschmelzen. Diese erste Cyborg-Olympiade („Cybathlon“) fand am 8. Oktober 2016 nicht etwa in Silicon Valley oder China statt, sondern bei unserem Nachbarn Schweiz in der Swiss Arena in Kloten6 – was Silikon Valley und China sehr geärgert hat. Der „Cybathlon“ bestand aus sechs Wettkämpfen: einem virtuellen Rennen mittels Gedankensteuerung von virtuellen Objekten in einem Computer durch Brain-Computer-Interfaces (BCIs), also Direktverbindungen zwischen menschlichem Gehirn und Computer, einem Fahrradrennen zwischen Gelähmten mittels funktionaler elektrischer Muskelstimulation (FES), einem Geschicklichkeitsparcours mit Armprothesen, einem Hindernisparcours mit Beinprothesen, einem Wettlauf mit robotischen Exoskeletten und einem Wettrennen mit automatisierten Rollstühlen.7 Damit sollte demonstriert werden, welche revolutionären Möglichkeiten der Überschneidungspunkt Technik, Mensch und Medizin bereits heute für die „Verbesserung des menschlichen Körpers“ („human enhancement“) bietet. Regionale Expertise kann „von unten“ aufbauende Beiträge dazu liefern – die sich möglicherweise als „game changer“ für das größere Ganze erweisen. Regionale Forschung kann hier Nischenbereiche belegen, die dann möglicherweise einem „Moonshot“ zuarbeiten. Die Identifikation solcher Nischenbereiche wird für Südtirols Wissenschaft der kommenden Jahre wichtiger. Dazu gehören auch bewusste Schwerpunktbildungen hinsichtlich neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz, Blockchain und dazugehörige Innovationsbereiche wie Dateneigentum bzw. -ökonomie.

ZWISCHEN MOONSHOTS UND WISSENSCHAFTSEXPORT

Südtirol wird, weil als feiner, aber kleiner Mitspieler, kaum die Möglichkeit haben, die ganz „großen“ Entwicklungen, die in den kommenden Jahren buchstäblich auf eine „neue Dimension des Menschseins“ hinzielen, zu initiieren oder gar anzuführen. Südtirols im Kern regionale Forschungseinrichtungen sind dafür auch nicht erdacht. Sie arbeiten für Fortschritt mit Augenmaß und im internationalen Austausch. Das heißt nicht, dass Südtirol auf der Landkarte der großen Erneuerungsbewegungen des Verhältnisses zwischen Wissenschaft, Technik und Mensch in den kommenden Jahren keine Rolle spielen könnte.

Das Land kann durchaus an wesentlichen Teildimensionen verschiedener „Moonshot“-Entwicklungen mitwirken. So etwa mittels der am Forschungszentrum Eurac Research seit 2001 beispielhaft aufgebauten Biomedizin, die direkt mit dem „neuen großen Sprung“ von Wissenschaft und Gesellschaft, der vertieften technologischen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper, verknüpft ist. Zum „Zukunftsthema menschlicher Körper“ gehören bereits heute Investitionen in Lebenszeitverlängerung, Umkehr des Alterungsprozesses (age reversal), Selbstoptimierung und Lebensqualitätssteigerung. Südtirol kann hier, wenn es sich auf Teilbereiche wie etwa einen zusehends qualitäts- und dabei noch stärker körper- und wellnessorientierten „High-Quality“-Tourismus spezialisiert, durchaus wertvolle Beiträge aus der eigenen Realität heraus leisten.

Südtirol kann aber auch in anderen Bereichen wie der interdisziplinären Regionalentwicklung oder auf dem Feld der technikgestützten Erdbeobachtung, wozu auch die Überwachung der sich im Klimawandel verändernden Landschaft gehört, einen von regionalen Daten ausgehenden überregionalen Netzwerk-Beitrag leisten. Hierzu hat Eurac Research in den vergangenen Jahren neue Zentren gegründet, darunter das „Center for Sensing Solutions“, das Informationen zur Raumentwicklung in Echtzeit erhebt und digitalisiert.

Dazu kommt schließlich auch die politisch-institutionelle und legalistische Dimension. Eines der wichtigsten Exportgüter Südtirols ist bereits heute die Autonomie als demokratisches Regulationsprinzip, in Form von Lösungsbeispielen für Fragen zu Minderheiten, Sprachen, Regionalismus, Föderalismus. Südtirol kann noch stärker zu einem Umschlagpunkt für solche Fragen werden – und dabei weiterhin seine europäische Brücken- und Verbindungsfunktion erfüllen. Dazu hat die Landesregierung am Hauptsitz von Eurac Research das „Center for Autonomy Experience“ angesiedelt, das sich der Information, dem Austausch und der Diskussion im Zusammenhang mit dem Südtiroler Autonomiemodell widmet.

UNESCO-ZUKUNFTSBILDUNG UND
DAS „MENSCHENRECHT AUF WISSENSCHAFT“

In diesem sich heute weit öffnenden Raum wird die Zukunft eine Vielfalt spannender Neuerungen bringen, die die Lebendigkeit steigern und uns intellektuell – und in unserem Handlungssinn – positiv auf Trab halten. Südtirol hat die besten Voraussetzungen dafür, auch um in der Einbeziehung der Bevölkerung in den Aufschwung von Wissenschaft und Forschung erfolgreich zu sein. Was benötigen wir dafür?

Bei aller möglicherweise fortbestehenden Unsicherheit durch „Krisenbündel“ und „Bündelkrisen“ dürften in der Gesamtschau zwei große Trends die kommenden Jahre prägen, die Stabilität und Sicherheit durch Partizipation fördern. Dies ist einerseits die wachsende Anforderung zur Zukunftsbereitschaft, was Zukunftsbildung zu einem neuen Grundlagenfach aller gesellschaftlichen Bereiche, aller Bildungs- und Wissenschaftssektoren mit der vielleicht größten inter- und transdisziplinären Integrationskraft im Wissenschaftssystem macht. Andererseits findet seit Jahren eine Vermenschenrechtlichung von immer mehr Gesellschafts- und Politikfeldern statt, wozu in jüngster Zeit auch die Entstehung eines „Menschenrechts auf Wissenschaft“ gehört. Zukunftsbildung und Recht auf Wissenschaft werden in den kommenden Jahren immer untrennbarer voneinander werden. Beide sind für breite Bevölkerungskreise und Teilhabe gedacht – und Südtirol kann das zu seinem Vorteil nutzen.

Die fortschrittlichste Ausprägung zur Förderung einer möglichst breiten Zukunftsbereitschaft ist die UNESCO-Zukunftsbildung. Die systematische Mitarbeit am UNESCO-­Ansatz „Futures Literacy“8 (deutsch „Zukünftebildung“) kann Südtirol einen geordneten Zugang zur größeren Umgebung zeitgemäßer Methoden der Zukunftsantizipation mittels internationaler Zusammenarbeit erschließen.9

In der Tat hat die UNESCO seit einigen Jahren den neuen Ansatz der UNESCO-Zukünftebildung als ihr Herzstück entwickelt. Diese Zukünftebildung besteht in der Organisation gemeinsamer Zukunftsdialoge zwischen Menschen aller Altersstufen, Berufsgruppen und Geschlechter sowie sozialer und kultureller Zugehörigkeit. Der Dialog wird territorial organisiert. Er soll in Schulen, an Universitäten und in der Zivilgesellschaft neue Möglichkeiten der Teilhabe an möglichen Zukünften eröffnen – und dadurch diese Zukünfte als gemeinsames und offenes Gesellschaftsprojekt entstehen und reifen lassen. Der Plural ist bewusst gewählt. Denn im gemeinsamen Nachdenken über „Zukunft“ ist es nicht eine, sondern sind es viele mögliche Zukünfte, die sich eröffnen. Gemeinsam über Zukunft nachdenken, ist ein kollektives Gesellschaftsprojekt. Dieses Gesellschaftsprojekt soll möglichst vielfältig und im Zusammenspiel zwischen Zentren und Peripherien sowie zwischen Geschlechtern und Generationen geschehen. Politik und Bürgerinnen und Bürger können dadurch gleichermaßen zur Gestaltung inspiriert werden. Auch Mitarbeitende und Führungskräfte verschiedenster Organisationen und Bereiche – vom Handwerk über das Banken-, Finanz- und Wirtschaftswesen bis hin zum Technologiebereich – können sich in Sachen Zukunftsfähigkeit partizipativ so schulen lassen, wie es von den Vereinten Nationen als neue Grundfähigkeit empfohlen wird.

Mit UNESCO-Zukünftebildung wird die Beteiligung der Menschen auf wissenschaftlicher Grundlage und mittels einladender, allgemein zugänglicher Formate wie etwa den dezentral abgehaltenen „Zukunftslaboratorien“ (Futures Literacy Laboratories) auf eine neue Stufe gehoben. Das stärkt die Widerstands- und Selbsterneuerungsfähigkeit sowohl in Wohlstands- als auch in Krisenzeiten. Vor allem aber lässt es eine Vielfalt von Ideen sprießen; macht Vorstellungen klarer; gleicht unterschiedliche Erwartungen, Hoffnungen und Sorgen einander an; und ist ein Projekt der Freude im Menschheitsgeist der UNESCO. Zukunft wird hier nicht als Ort oder Raum, sondern als menschliche Fähigkeit verstanden. Sie ist nicht weit entfernt, sondern hier und jetzt, zwischen und in den Menschen.

Deshalb wird die UNESCO-Zukünftebildung seit einigen Jahren von der Dachorganisation UNO auch als integrativer (und dabei zugleich vorpolitischer) Erziehungs- und Bildungsansatz im Sinn eines gebietsbezogenen Gesamtentwicklungsansatzes empfohlen. Territorial breit angewandt und möglichst sektorenübergreifend praktiziert, kann sie für Integration sorgen – auch im Gefühl und im Zugehörigkeitsempfinden der Bevölkerung. Menschen fühlen sich in das, was wird, eingebunden, und die Politik hat breitere Spielräume.

Der zweite Trend hat ebenfalls viel mit Zukunft und Bildung zu tun. Er wendet dies in ein „Recht auf Wissenschaft“ und wird dabei ebenfalls maßgeblich von den weltweit etwa 1000 UNESCO-Chairs vorangetrieben.10

Wenn Südtirol sich frühzeitig an diesem „Recht auf Wissenschaft“ beteiligt; wenn es dies zum Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie und der RIS3-Strategie macht und an die Seite einer anderen großen Zeitbestrebung, der Einfügung von „Rechten der Natur“ in regionale, nationale und europäische Verfassungen, stellt und es soweit als möglich praktisch umsetzt, kann unser Land in der neuen Phase seiner Entwicklung einen großen Schritt voran machen.

AUSBLICK

Das 30-jährige Geburtstagskind Eurac Research ist erwachsen geworden. Die Forschungs- und Beratungseinrichtung ist über die drei Jahrzehnte gereift. Heute steht Eurac Research als eine europäische, transnationale Spitzeneinrichtung angewandter Forschung da, die aus vielen Entwicklungsbereichen des Landes nicht mehr wegzudenken und auf ihren Gebieten auch überregional unter den Besten ist. Unter der Leitung von Roland Psenner und Stephan Ortner wurden wichtige Weichenstellungen für die kommenden Jahre getroffen. Dazu gehören das Angehen konkreter gesellschaftlicher Probleme mittels Entwicklungsberatung, Foresight und Zukunftsbildung; die konsequente Etablierung einer Vertrauenskultur zwischen den Mitarbeitenden; die Einführung intelligenter Arbeit und neuer Gemeinschaftsformen (einschließlich der Langzeit-Vision eines erweiterten „Wissenschaftscampus“ für Bozen); die institutsübergreifende Stärkung inter- und transdisziplinärer Projekte; und der Einbau von regional verankerten, glaubwürdigen „Moonshots“ in praktische lokale und regionale Fragestellungen. Hier hat sich Südtirol einen Kompetenz-„Schatz“ erarbeitet, der international gefragt ist – und im Tausch gegen intellektuelle Leistungen von auswärts verwendet werden kann – wie ein Kapital, das dem Land auf viele Jahre hohe Zinsen bringt. Wie eine Bank Geld sammelt, so hat man in bei Eurac Research über 30 Jahre lang wissenschaftliches Kapital und Know-how gesammelt. Das wird sich auch weiterhin und langfristig auszahlen.

Wohin geht die Südtiroler Wissenschaft in den kommenden Jahren? Die Gründergeneration der Südtiroler Wissenschaft hatte die Idee einer zusätzlichen Ebene gesteigerter Freiheit. Dazu gehörte der regional untermauerte Blick auf Ganzheiten, also auf die großen Zukunftsfragen, die Südtirol als autonomes Gebiet in Europa realistisch, begrenzt und doch selbstbewusst in den Blick nehmen sollte. Europa-Skeptiker wie der US-Ökonom Tyler Cowen sind der Meinung, dass „der Gedanke an unzureichende Innovationen und die Unfähigkeit, sich eine ganz andere Zukunft vorzustellen, einen großen Teil Westeuropas lähmt.“11 Südtirol als Teil dieses Westeuropas und als europäische Modellregion im Werden ist – bei allem Realismus – genau wie andere Regionen Europas dazu aufgerufen, dieser Einschätzung mit Taten und Visionen zu widersprechen, indem es seine Talente fruchtbar macht.

Südtirol hat vom Zweiten Weltkrieg bis zur Erlangung des Zweiten Autonomiestatuts 1972, von da an bis zur Streitbeilegungserklärung Österreichs und Italiens 1992, und auch seither viel Energie und Bewusstsein auf sich selbst und seine innere Gemeinschaftsbildung verwendet. Das führte zu einer außerordentlich hohen regionalen Durchdringung und Anreicherung mit (Selbst-)Bewusstsein auf verschiedenen Ebenen. Was im Gegenzug als Preis dafür zeitweise vernachlässigt werden musste, war – neben der Elitenförderung – ein „glokaleres“ Bewusstsein. Deshalb ist die heute erfolgende stärkere Anknüpfung an Zukunftsthemen wichtig, weil sie dabei hilft, „Glokalität“ weiterzuentwickeln.

Für Südtirol könnte die Vision für 2030 also in einem Satz zusammengefasst lauten: Wir brauchen moderne, flexible Forschungseinrichtungen mit internationalen Arbeitsformen und einer realistischen Anbindung regionaler Expertise an globale Entwicklungen, die umgekehrt regionale Erfahrungen noch besser global nutzbar macht. Die Schritte dazu hat Südtirol seit Jahren gesetzt. Das Potential im Land ist groß. Wir sollten, während wir 30 Jahre Eurac Research würdigen, das gute Gefühl zur Erzeugung eines neuen Momentums nützen: für eine neue Südtiroler Wissenschaftsoffensive im Dienst von Territorium und Gemeinschaft. Das könnte die beste Medizin zur Heilung der Covid-19-Folgen sein. Eurac Research kann und wird dabei auch weiterhin beispielgebend mitwirken.



Abstract

The message of globalization to territorially focused science is clear: regional contexts will become more interdependent on global developments in the coming years. In turn, globalization in the view of many observers, seems to have reached certain limits and now needs better contextualization and adaptation to regional developmental needs in order to become more sustainable. As a consequence, both regional and global science actors are becoming more conscious about the challenges related to the interface of regionalization and globalization. The example of South Tyrol’s main social sciences hub shows this. The autonomous region in northern Italy on the border with Austria and Switzerland is endowed with a high degree of self-governance and regional expertise in applied research. In the province, regional social science has for years increasingly embraced globalization themes and trends – significantly through the work of Eurac Research. It has done so to better cope with global-local challenges and to anticipate their consequences. However, there are even more reasons for the “glocalization” of territorially related social science. I list some of them below. Building on this, I venture – to a certain extent speculatively and in any case with an open glance – into a tentative outlook for the coming years.


1 Georg Krücken: Wandel – welcher Wandel? Überlegungen zum Strukturwandel der universitären Forschung in der Gegenwartsgesellschaft, http://www.hof.uni-halle.de/journal/texte/06_1/Kruecken_Wandel.pdf.

2 Autonome Provinz Bozen-Südtirol: Everyday For Future. Gemeinsam für die Nachhaltigkeit, Juli 2021, https://assets-eu-01.kc-usercontent.com/bad10f1e-e9af-0140-aa47-ca5379671ba5/1ca00359-ccd2-466a-ab07-ed151de744a4/WEB-sostenibilita-paper-de.pdf.

3 Eurac Research: Ökonomie im Dienst des Glücks, http://www.eurac.edu/en/pages/eventdetails.aspx?entryid=123363.

4 NOI Techpark Südtirol: http://www.bls.info/noi-techpark/noi-techpark/.

5 UNESCO: Draft Medium-Term Strategy for 2022-2029 (41 C/4) and Draft Programme and Budget for 2022-2025 (41 C/5), Part I: Draft Medium-Term Strategy for 2022-2029 (41 C/4), UNESCO Executive Board 2021, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000375755_eng.

6 ETH Zürich: Cybathlon: For a World Without Barriers, http://www.cybathlon.ethz.ch/.

7 ETH Zürich: Cybathlon: The Disciplines, https://cybathlon.ethz.ch/en/event/disciplines/whl und https://cybathlon.ethz.ch/en/cybathlon/disciplines/info-teams.

8 UNESCO Futures Literacy: https://en.unesco.org/futuresliteracy/about, und https://en.unesco.org/futuresliteracy.

9 Riel Miller (ed.): Transforming the Future: Anticipation in the 21st Century, https://www.routledge.com/Transforming-the-Future-Anticipation-in-the-21st-Century/Miller/p/book/9780367855888.

10 Helle Porsdam & Sebastian Porsdam Mann: The Right to Science: Then and Now, Cambridge University Press (open access), https://www.cambridge.org/core/books/right-to-science/9FC3AB86632A686C686F0C5FD8EBF766.

11 Tyler Cowen: Wir werden selbstgefällig. In: Gottfried Duttweiler Institut (GDI), http://www.gdi.ch/de/Think-Tank/Trend-News/Tyler-Cowen-Wir-werden-selbstgefaellig?sourceid=mailing_RemII_demokratie170425DE&utm_source=mailing_RemII_demokratie170425DE&utm_medium=E-Mail&utm_campaign=demokratie17.