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„Die neue Grenze in der Forschung heißt Datennachhaltigkeit“

Gespräche zwischen Disziplinen: Die Physikerin Claudia Notarnicola und der Notarzt Giacomo Strapazzon im Interview.

Sie ist Physikerin – spezialisiert auf Fernerkundung und Erdbeobachtung. Er ist Notfallmediziner und als Bergretter unterwegs. Viel unterschiedlicher könnten die Profile von Claudia Notarnicola und Giacomo Strapazzon nicht sein. Und doch verbinden ihre Forschungsarbeit mindestens zwei Dinge: die immer größer werdenden Datenmengen, mit denen sie arbeiten, und… Schnee.

Seit wann ist Schnee Teil Ihres Lebens und wie ist es dazu gekommen?

Giacomo Strapazzon: Das war schon immer so. Zunächst in der Freizeit beim Skifahren und dann beruflich. Als Bergretter haben mich zunächst die Bergungsmethoden von Lawinenopfern interessiert, dann habe ich mich auf medizinische Fragen konzentriert, auf Unterkühlung zum Beispiel.

Claudia Notarnicola: Bei mir war das keinesfalls eine frühe Begegnung, denn ich komme nicht aus einer Bergregion (lacht. Claudia Notarcola ist in Apulien aufgewachsen, Anm. d. Red.) Auch beruflich habe ich mich lange mit Wasser beschäftigt, bis ich zum Schnee kam. Bei dem Luft- und Raumfahrtunternehmen Gavazzi Space (heute Compagnia generale per lo spazio) in Mailand habe ich mir die Forschungsgrundlagen angeeignet und hier in Bozen das ideale Terrain gefunden, sie anzuwenden. Auch wenn das am Anfang nicht leicht war, denn es gab viele Mitbewerbende. Doch hat es sich gelohnt durchzuhalten.

Uno studio recente sulla neve che vi sta particolarmente a cuore.

Notarnicola: Ich habe kürzlich in der Zeitschrift Scientific Reports der Nature-Gruppe einen Überblick darüber veröffentlicht, wie sich die Schneebedeckung in Bergregionen auf der ganzen Welt während der letzten 38 Jahre verändert hat. Dabei habe ich Zeitreihen von Satellitendaten mit mathematischen Modellen kombiniert und mithilfe dieses hybriden Ansatzes rekonstruiert, wie sich der Zeitraum, in dem in den Berggebieten der Welt Schnee liegt, im Durchschnitt um etwa 15 Tage im Jahr verkürzt hat.

Strapazzon: Besonders schätze ich eine unserer jüngsten Studien, die Medizin und Schneeforschung zusammenbringt: Wir konnten zeigen, wie ein vollständig verschüttetes Lawinenopfer die Luft im Schnee zum Atmen nutzen kann – mehr bei Pulverschnee, weniger bei nassem Schnee. Solche Erkenntnisse können Ausrüstung Selbstrettungsrichtlinien verbessern.

Notarnicola: Wir untersuchen ebenfalls die Schneedichte. Ich frage mich, ob sich unsere Forschungswege jemals kreuzen werden…

Was könnte Sie daran hindern?

Notarnicola: An mangelnder Kooperationsbereitschaft liegt es sicher nicht! Der springende Punkt ist, dass auch wir die Schneebeschaffenheit und einige andere Faktoren kennen müssen. Wir berechnen damit das Wasseräquivalent und schätzen so die Wassermenge ab, die uns zur Verfügung steht. Dies ist jedoch der heilige Gral der Fernerkundung. Obwohl wir immer mehr Daten zur Verfügung haben, sind leider noch viele technische Fragen offen.

Woher bekommen Sie die Daten für Ihre Studien?

Notarnicola: Es gibt bodengestützte Datennetze, die Erdoberflächendaten aus Messkampagnen und von Klimastationen liefern. Daneben nutzen wir Satellitendaten und mathematische Modelle. Letztere sind unverzichtbar, um Lücken zu füllen – zum Beispiel in Zeitreihen. Zusätzlich gibt es so genannte „Hilfsquellen“ wie historische Berichte oder andere Dokumente, aus denen wir nützliche Informationen ableiten können.

Strapazzon: In unserem Fall handelt es sich zu einem Teil um klinische Daten aus Experimenten in Anlagen wie dem terraXcube und aus Feld-Beobachtungen. Andere Daten stammen aus tatsächlichen Unfällen. In letzterem Fall besteht die Herausforderung darin, die während der Rettungseinsätze erhobenen Daten mit Krankenhausdaten und Umgebungsdaten wie zum Beispiel Schneeeigenschaften zu kombinieren. Zu diesem Zweck gibt es bei Eurac Research verschiedene Register, wie das Lawinenregister oder das Alpentraumaregister, in denen die Unfälle erfasst sind.

Credit: Eurac Research | Tiberio Sorvillo

„Für meine Dissertation Mitte der 90er Jahre standen mir drei Bilder zur Verfügung, für meine letzte Studie über die Entwicklung der weltweiten Schneebedeckung habe ich mindestens 7.000 Satellitenbilder verwendet. Ich glaube, das sagt alles.“

Claudia Notarnicola

Sie sprechen beide von Zeitreihen. Wie stark ist die Datenmenge im Laufe der Zeit gewachsen und wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Notarnicola: Für meine Dissertation Mitte der 90er Jahre standen mir drei Bilder zur Verfügung: Sie waren während einer Mission des Space-Shuttle-Programms der NASA aufgenommen worden. Für meine letzte Studie über die Entwicklung der weltweiten Schneebedeckung habe ich mindestens 7.000 Satellitenbilder verwendet. Ich glaube, das sagt alles. Die Beschleunigung, die wir erleben, hat unsere Arbeit tiefgreifend verändert. Es wäre niemandem möglich, so viele Daten herunterzuladen und lokal zu speichern. Wir alle sind auf Plattformen angewiesen, die die Daten auch vorverarbeiten.

Strapazzon: Absolut gesehen sind unsere Zahlen nicht sehr hoch, da die Anzahl der Unfallopfer glücklicherweise relativ konstant ist – in den Alpen gibt es beispielsweise jährlich etwa 150 Lawinentote. Mit den neuen Instrumenten können wir jedoch in kurzer Zeit immer mehr Messungen durchführen. Früher haben die Rettungskräfte die Werte einer Person gemessen und von Hand auf einem Blatt Papier notiert; heute kann ein Überwachungsgerät bis zu 7.000 Messungen in einer Stunde vornehmen. Auch wir arbeiten daran, Daten effizient und standardisiert zu speichern.

In seinem Buch „L’Enfer numérique“ zeigt der Journalist Guillaume Pitron, wie die Cloud-Welt, die wir als immateriell wahrnehmen, in Wirklichkeit sehr materielle Auswirkungen hat - auch im Hinblick auf den ökologischen Fußabdruck. Seinen Berechnungen zufolge ist das Internet für etwa vier Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Wenn man bedenkt, dass im Jahr 2035 schätzungsweise 45 Mal so viele Daten produziert werden wie im Jahr 2020, werden die entsprechenden Auswirkungen katastrophal sein. Ist ökologische Nachhaltigkeit von Daten ein Thema, das in Ihren Projekten offen diskutiert wird?

Notarnicola: Dies genau ist die neue Grenze in der Forschung. Bislang herrschte ein regelrechter Wettlauf um Daten. Der hat uns weit vorangebracht: Die Methoden im Bereich der künstlichen Intelligenz zum Beispiel wurden bereits in den 1980er und 1990er Jahren entwickelt, kommen aber erst in den letzten Jahren dank des Big-Data-Booms voll zum Einsatz. Heute haben wir erkannt, dass Daten nicht zum Nulltarif zu haben sind, so dass wir uns zunehmend die Frage stellen müssen, was wir wirklich brauchen. Bevor heute ein Satellit auf den Weg geschickt wird, überlegt man sich genau , welche Bilder er tatsächlich senden soll.

Credit: Eurac Research | Tiberio Sorvillo

„Derzeit hat wiederverwendbare Rettungsausrüstung noch ein zu großes Gewicht, um in abgelegenen Gebieten eingesetzt werden zu können.“

Giacomo Strapazzon

Verursacht Forschung in Ihren Bereichen Abfall?

Notarnicola: In Sachen Daten muss man natürlich festhalten, dass Zeitreihen immer einen großen Nutzen bergen. Was den Bereich der Fernerkundung anbelangt ist – neben Daten die über lange Zeit in einer Cloud verbleiben müssen – der so genannten Weltraummüll ein großes Problem. Das sind ausgemusterte Satelliten, die langsam zu Schrott werden. Auch angesichts der zunehmenden Anzahl von Satelliten privater Unternehmen wird dies nicht nur für den Hyperraum, sondern auch für den realen Weltraum zu einem großen Problem.

Strapazzon: In unserem Bereich machen Einwegmaterialien den größten Anteil an Abfall aus. Es ist nicht leicht einen Weg zu finden, der nachhaltig ist, gleichzeitig die Sicherheit von Patienten und Personal garantiert und noch dazu die Ausrüstung nicht allzu schwer macht. Derzeit hat wiederverwendbare Rettungsausrüstung noch ein zu großes Gewicht, um in abgelegenen Gebieten eingesetzt werden zu können.

Sprechen wir über die soziale Nachhaltigkeit von Daten. Wie können wir uns in dieser Fülle von Informationen zurechtfinden?

Strapazzon: Es gilt, sich auf die Hauptforschungsfrage zu konzentrieren und sich nicht in den Fluten von Sekundärdaten zu verlieren. Bei internationalen klinischen Studien ist es üblich, ein Minimum an unverzichtbaren Daten festzulegen: Nur so kann sichergestellt werden, dass alle Teilnehmer diese Daten vollständig erheben. Je umfangreicher das Projekt ist, desto größer ist das Risiko von Ungenauigkeiten.

Welches menschliche Element – wenn es überhaupt eines gibt – wird künstliche Intelligenz niemals ersetzen können?

Notarnicola: Die Kreativität bei der Konzeption einer Studie und bei der Interpretation der Ergebnisse – auch durch das Hinzuziehen anderer Disziplinen.

Strapazzon: Gleiches gilt für die Notfallmedizin. Zusammenarbeit und eine tiefgehende Interpretation von Daten sind unerlässliche Grundprinzipien unserer Arbeit. Um sie nicht zu gefährden, müssen wir sie an Berufseinsteiger weitergeben, die sich unbedarfter als wir auf automatische Dateninterpretation verlassen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Seit Jahren arbeitet mein Team eng mit einem sehr guten Statistiker zusammen, um Lawinenopfer zu untersuchen; im Laufe der Zeit und nur durch gemeinsames Nachdenken haben wir gelernt, dass einige Daten, selbst wenn sie statistisch große Bedeutung haben, aus klinischer Sicht fast irrelevant sind. Um keinen Fehler zu begehen, schauen wir uns die Zahlen jedes Mal gemeinsam an.

Notarnicola: Vielleicht werden wir in ein paar Jahren eines Besseren belehrt, aber im Moment ist dies ein System der Intelligenz, das seinesgleichen sucht. Und ich bezweifle, dass es jemals etwas Vergleichbares geben wird …

Claudia Notarnicola

Claudia Notarnicola ist Physikerin und Leiterin des Instituts für Erdbeobachtung bei Eurac Research. Nach Lehraufträgen an den Universitäten Bari und Bozen wie auch an bei der argentinischen Raumfahrtbehörde gehört sie seit 2006 zum Cassini Radar Science Team, das insbesondere die Oberfläche des Saturnmondes Titan untersucht. Sie analysiert Schnee, liebt aber das Meer, wo sie anzutreffen ist, wann immer es ihre Zeit erlaubt.

Giacomo Strapazzon

Giacomo Strapazzon ist Notarzt, Bergretter und Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin bei Eurac Research. Diesen Sommer gewann er den Forschungspreis der Wilderness Medical Society. In seiner Freizeit zieht es ihn noch immer in die Berge und es steht zu erwarten, dass er seiner kleinen Tochter Delia so bald als möglich das Skifahren beibringen wird.

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