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Wenn die „Anderen“ zum Sicherheitsproblem werden
Die Forschung untersucht die Folgen von „Versicherheitlichung“ – der restriktiven Politik gegenüber Minderheiten und Migranten. Und sucht nach Alternativen dazu.
Wird die Gesellschaft bunter, kann das Thema „Vielfalt“ überfordern. Einige Staaten tun sich schwer mit der Anerkennung von Minderheitenrechten, andere setzen sie um, doch soziale Spannungen bleiben. Werden Bevölkerungsgruppen als Bedrohung für die staatliche Sicherheit angesehen, führt das zu Sondermaßnahmen. Die Sommerschule von Eurac Research untersucht, inwieweit eine restriktive Politik gegenüber Migranten und ethnischen/nationalen Minderheiten (Versicherheitlichung) legitimiert wird. Experten aus ganz Europa analysieren die negativen Auswirkungen und suchen nach Alternativen.
Seit über einem Jahrzehnt hat das Konzept der Sicherheit des Staates Einzug in den politischen Diskurs gefunden, und sich auf verschiedene Bereiche ausgewirkt. Am offensichtlichsten sind die Folgen für die Migrationspolitik: Aus der Notfall- und Sicherheitsperspektive heraus haben sich die Politik und die Verfahren geändert, wie sie Migrationsströme regeln und die Integration von Migrantinnen und Migranten in die Gesellschaft eines Landes gestalten. Wachsende Migrationsströme und globale Ereignisse wie terroristische Bedrohungen, Wirtschaftskrisen und zunehmender soziodemografischer Druck auf das Sozialsystem in vielen Staaten führten zu einer Gleichsetzung zwischen Migration und Sicherheit. Was waren die Folgen davon?
„Die Tatsache, dass sich die Verbindung zwischen Migration und Sicherheit immer mehr verfestigt hat, führte dazu, dass das Phänomen der Einwanderung und die Eingliederung von Migrantinnen und Migranten in die Gesellschaft aus der Perspektive eines Sicherheitsproblems und einer grundsätzlichen Bedrohung betrachtet wurde. Dies hat uns daran gehindert, nach alternativen Perspektiven zu suchen: humanitäre, soziale oder wirtschaftliche“, erklärt Andrea Carlà, Experte für Minderheitenschutz von Eurac Research: „Infolgedessen wurde eine restriktive Grenzkontrollpolitik unterstützt und oft auch angenommen, und die Rechte von Migrantinnen und Migranten und ihr Zugang zu sozialen Diensten wurden oft eingeschränkt. In einigen Fällen führte es zu diskriminierenden Praktiken.“
Die Logik der Sicherheitproblematik beeinflusst jedoch nicht nur die Art und Weise, wie mit Migrationsphänomenen umgegangen wird, auch andere Spannungsfelder und Konflikte – etwa im Zusammenhang mit ethnischen/nationalen Minderheiten – sind davon betroffen.
Sicherheit, Notfälle und Minderheiten
Das Konzept der „Versicherheitlichung“ greift innerhalb und außerhalb Europas häufig auch beim Umgang mit ethnischen/nationalen Minderheiten, Minderheiten werden als Bedrohung wahrgenommen, was Notfallmaßnahmen erfordert.
Die Tatsache, dass sich die Verbindung zwischen Migration und Sicherheit immer mehr verfestigt hat, hindert uns daran, nach alternativen Perspektiven zu suchen: humanitäre, soziale oder wirtschaftliche."
Andrea Carlà, Experte für Minderheitenschutz von Eurac Research
Der Forscher Andrea Carlà nennt einige Beispiele. In der Türkei werden die Autonomiebestrebungen der kurdischen Bevölkerung in den Reden der Regierung in Ankara und in ihren Militäraktionen als Bedrohung für die Souveränität und die Einheit des Landes dargestellt. In mehreren europäischen Ländern sind Roma und Sinti häufig Gegenstand von Notstandsmaßnahmen, auch weil sie mit Kleinkriminalität, wie Diebstahl und Sozialhilfebetrug, sowie mit gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht werden. Palästinensische Staatsbürger Israels werden im politischen und legislativen Diskurs als antagonistisch und als Bedrohung der jüdischen Identität und Präsenz in Israel wahrgenommen. In einigen baltischen Staaten wird die Frage der russischen Minderheiten manchmal unter dem Aspekt der Sicherheit behandelt. Auch in der Vergangenheit wurden mehrere Konflikte und Spannungen unter der Sicherheitsperspektive ausgetragen, so z.B. in Nordirland und im ehemaligen Jugoslawien, wo im Kosovo noch immer ein Versicherheitlichungsprozess zwischen der albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit stattfindet.
Die Folgen der Versicherheitlichung: Angst und Ausgrenzung
„Sicherheit ist heute ein grundlegender Wert unserer modernen Gesellschaft und hat sich zu einem Schlüsselbegriff entwickelt, der die politische Agenda beeinflusst. Gleichzeitig ist das Konzept der Sicherheit häufig mit Gefühlen der Angst und Prozessen der Ausgrenzung verbunden, wie Mauro Cereghini und Michele Nardelli in ihrem kürzlich erschienenen Buch Sicurezza aufzeigen“, erklärt Andrea Carlà.
Der Prozess der Versicherheitlichung geht mit Prozessen der Identitätskonstruktion, der Diskriminierung und des Nationalismus einher. „Bei der Versicherheitlichung geht es darum, eine Gruppe, die als Notfall behandelt wird, von anderen Gruppen abzugrenzen, die nicht als Bedrohung angesehen werden und daher geschützt werden müssen. Man trennt, wer dazugehört und wer nicht“, so Carlà. Dies ist auch der Grund, warum es in letzter Zeit immer wichtiger wird, die Prozesse der Versicherheitlichung von Migration und Minderheiten zu verstehen. Forscherinnen und Forscher haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie sehr und unter welchen Umständen Minderheiten und kulturell „Andere“ als Bedrohung wahrgenommen werden. Die Studien beleuchten die Dynamik, die Narrative, die Praktiken, die Vorgehensweisen und die Akteure, die an den Versicherheitlichungsprozessen von Minderheiten und Migranten beteiligt sind, sowie deren Ursachen und Folgen. Gleichzeitig liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie diesen Prozessen entgegengewirkt werden kann.
Die Sommerschule „Diversity Governance and Securitisation in the EU and Beyond” findet am Forschungszentrum Eurac Research in Bozen statt und wird sich vom 2. bis 8. Juli 2023 diesen Themen widmen.
Eine Sommerschule zum Thema „Versicherheitlichung“
Das einwöchige Programm der Sommerschule kombiniert theoretisches Fachwissen und empirische Forschung zu relevanten Fallstudien innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Es umfasst Vorträge, Podiumsdiskussionen, Rollenspiele und Studienbesuche bei relevanten Institutionen in Südtirol. „Südtirol gilt allgemein als erfolgreiches Beispiel für die Lösung ethnischer Konflikte durch Autonomie und Machtteilungsmechanismen. Eine der großen Erfolgsgeschichten Südtirols und seiner Autonomie ist, dass heute ein positives Bild von Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt vorherrscht, was als Vorteil gesehen wird“, kommentiert Andrea Carlà.
"Die Versicherheitlichung an sich ist kein unausweichliches Phänomen: Einige Länder scheinen offener zu sein und weniger besorgt über die negativen Folgen, die der Migration zugeschrieben werden, und es gibt durchaus Fälle von friedlicher Koexistenz zwischen Mehrheiten und Minderheiten.“
Andrea Carlà, Experte für Minderheitenschutz von Eurac Research
Umfragen zufolge ist der Anteil der Menschen, die das Vorhandensein mehrerer Sprachgruppen (deutsch, italienisch und ladinisch) in Südtirol grundlegend als bereichernd empfinden von 58,6 Prozent im Jahr 1991 auf 77,9 Prozent im Jahr 2014 gestiegen. „Aber auch wir sind nicht völlig frei von Versicherheitlichung. So gibt es in manchen politischen Diskursen nach wie vor eine Abwehrhaltung gegenüber dem ‚Anderen', vor allem wenn dieses Andere ausländischer Herkunft ist, was oft als soziales und kulturelles Problem dargestellt wird.“
Die Verbindung zwischen Minderheiten und Sicherheit aufbrechen: mögliche Alternativen
Die Sommerschule wird sich auch mit möglichen Alternativen befassen, etwa mit den Fragen, wie die Prozesse der Versicherheitlichung in Frage gestellt, überwunden oder rückgängig gemacht werden können. Hierzu gibt es verschiedene Ansätze: Der zentrale Gedanke des Konzepts der Versicherheitlichung ist, dass ein Phänomen unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit behandelt wird: „Nicht, weil es eine reale existenzielle Bedrohung gibt, sondern weil das Thema als eine solche dargestellt wird“, so Carlà. In diesem Sinne wird die normale Politik, die durch Diskussionen, Debatten und Überlegungen gekennzeichnet ist, durch die Politik des Notstands ersetzt, die sich durch Schweigen, Geheimhaltung und Unterdrückung auszeichnet. Die Ent-Versicherheitlichung wird als Wiederherstellung eines echten öffentlichen Raums verstanden, in dem diskutiert werden kann. Andere Studien konzentrieren sich auf die bestehende Möglichkeit oder den Nutzen der Ent-Versicherheitlichung und darauf, wie sie erreicht werden sollte und wer seinen Beitrag dazu leisten kann. „Die Versicherheitlichung an sich ist kein unausweichliches Phänomen“, schließt Andrea Carlà. „Einige Länder und Regierungen scheinen offener zu sein und weniger besorgt über die negativen Folgen, die der Migration zugeschrieben werden; und es gibt durchaus Fälle von friedlicher Koexistenz zwischen Mehrheiten und Minderheiten."
Eine Sommerschule zum Thema Versicherheitlichung und Diversity Governance
Vom 2. bis 8. Juli 2023 findet an Eurac Research die Policy Summer School "Diversity Governance and Securitisation in the EU and Beyond" statt. Teilnehmen werden 25 PhDs, Vertreterinnen und Vertreter von NGOs und andere Praktikerinnen und Praktiker. Die Vorlesungen und Workshops werden von Experten aus Eurac Research und anderen europäischen Universitäten und Forschungseinrichtungen gehalten. Die Policy Summer School ist Teil der Aktivitäten des SECUREU-Netzwerks, das sich mit der Frage der Versicherheitlichung von Migranten und ethnischen Minderheiten und dem Anstieg der Fremdenfeindlichkeit in der Europäischen Union beschäftigt. Die Veranstaltung wird vom Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research in Zusammenarbeit mit dem Institut Barcelona d'Estudis Internacionals und der Universität Glasgow organisiert.
Migrationsreport Südtirol 2020
Wie die Migration unser Land weiter verändert
Im Migrationsreport Südtirol 2020 analysieren 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Eurac Research aus den Bereichen Soziologie, Geographie, Recht, Geschichte, Biologie, Anthropologie, Politikwissenschaft und Sprachwissenschaft, wer die Migrantinnen und Migranten in Südtirol sind und wie ihre Integration in Schule, Arbeitswelt und auf politischer Bühne funktioniert. Der Report umfasst 100 Seiten aus Beiträgen, Interviews, Infografiken und Bildmaterial. Er richtet sich an die lokale Politik, Stakeholder, interessiertes Publikum und Schüler. Viele Schulen verwenden ihn als Unterrichtsmaterial.