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Sgraffito

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Sgraffito
Präzisionsarbeit: ein Sgraffito entsteht - © Dominik Taeuber

Es ist jedes Mal ein Fest fürs Auge, durch die Dörfer des Unterengadin mit ihren reich verzierten Häusern zu spazieren. Ornamente, Symbole, Spruchweisheiten – einfarbig, bunt, in einer großen Vielfalt: Stundenlang könnte ich mich damit beschäftigen. Was man auf den ersten Blick für Malerei halten könnte, entsteht in Wahrheit durch eine Kratzputztechnik. Als traditionelles Handwerk ist es inzwischen in die ‚Liste der Lebendigen Traditionen in der Schweiz‘ aufgenommen worden.

Aber wie genau entsteht so ein Sgraffito, sind mit den verwendeten Symbolen spezifische Aussagen verbunden, und seit wann kratzt man eigentlich in Graubünden Ornamente in die Schauseiten der Häuser? Mit diesen Fragen im Gepäck mache ich mich auf, das Geheimnis ‚hinter den Fassaden‘ zu ergründen. Genauer gesagt, nach Susch, wo einer der engagiertesten Verfechter der Sgraffito-Technik zuhause ist: Josin Neuhäusler.

Weit über die Grenzen des Engadins hinaus ist er inzwischen bekannt. Mit seinen ‚Sgraffito-Kursen für jedermann' ist er nicht nur Hüter dieser Technik, sondern auch ein engagierter Botschafter. Seit gut zehn Jahren bietet er diese Kurse täglich an – und kann sich vor Anfragen kaum retten! Er selbst ist in dieses Handwerk ,hineingeboren' worden: Sein Großvater und Vater waren beide schon als Sgraffito-Künstler tätig.

„Dabei handelt es sich bei der Sgraffito-Technik um ein jahrhundertealtes Kulturerbe“, erklärt mir Josin zur Begrüßung. „Entstanden ist es in der Renaissance, in Florenz und Rom. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts brachten es italienische Baumeister nach Deutschland, Österreich und auch hierher zu uns, in die Schweiz. Die heimischen Handwerker griffen die Technik auf und entwickelten sie in den folgenden Jahrhunderten zu einem eigenen Stil weiter.“ Eigentlich handelt es sich bei der Sgraffito-Technik also um ein schweizerisch-italienisches Kulturerbe. Das verrät auch schon der Name: Sgraffito stammt vom Italienischen ‚sgraffiare‘, zu Deutsch: kratzen.

Werkzeuge des Sgraffito-Künstlers © Dominik Taeuber

„Und wie genau stellt man so ein Sgraffito nun her?“, möchte ich von Josin wissen. „Oh, eigentlich müsstest Du zur Beantwortung dieser Frage einen Kurs bei mir buchen“, lacht er. „Bei einem einfarbigen Motiv wird kurz gesagt auf die Hausfassade ein einfarbiger Grundputz aufgetragen. Darauf wird in einer oder mehreren Schichten ein pigmentierter Kalkanstrich, ein Feinputz, aufgebracht, und zwar ‚al fresco‘. In diesen werden dann mit Messern, Nägeln, dem Zirkel und weiteren Instrumenten die Motive hineingekratzt. Man muss schnell und sorgfältig arbeiten – Korrekturmöglichkeiten gibt’s eigentlich keine. Und man muss fertigwerden, bevor der Putz austrocknet.“ Sommertage mit feuchter Witterung eignen sich daher ganz besonders für die Arbeit an den Fassaden.

Welche Motive verwendet werden – das klärt Josin vorab mit den Hausbesitzern. „Denn ja, es ist oft eine Aussage damit verbunden, ein tieferer Sinn.“ Er zeigt mir ein von Ulrich Vital aus Sent angelegtes Verzeichnis von rund 60 Motiven mit Erläuterungen zu ihrem Bedeutungsspektrum. Viele Motive haben Bezüge zu Fruchtbarkeit, Glück und Hoffnung, manche sollen Übel abwehren. Der Hirsch zum Beispiel, aber auch die Nymphe und der Delphin. Granatapfel und Hase stehen hingegen für Fruchtbarkeit und reiche Ernten. „Dabei ist es natürlich nicht so, dass jeder Hausbesitzer heute noch diesen Symbolgehalt in den ausgewählten Motiven sieht“, ergänzt Josin. „Manchen gefallen auch einfach nur die Darstellungen.“

„Mein ganz besonderes Anliegen ist es, Kinder und Jugendliche für die Sgraffito-Technik zu interessieren und zu begeistern. Heutzutage ist es nämlich nicht mehr so einfach, Nachwuchs zu gewinnen."

Josin Neuhäusler, Susch
Josin in seinem Werkstatt-Atelier © Dominik Taeuber

Kinder und Jugendliche für die Sgraffito-Technik zu interessieren und zu begeistern – das liegt Josin ganz besonders am Herzen. Schließlich ist es heutzutage nicht mehr so einfach, Nachwuchs zu gewinnen – und die Sgraffito-Technik lernt man nicht einfach mal so nebenbei. „Dafür braucht es jahrzehntelange Übung und Erfahrung“, verrät er mir. „Es ist eine Herausforderung, bei passenden Witterungsverhältnissen innerhalb weniger Stunden eine ganze Fassade mit der Sgraffito-Technik zu verzieren.“

Das Ergebnis aber ist ein ausschließlich in Handarbeit gefertigtes Unikat, das für jeden sichtbar bestenfalls Jahrhunderte überdauern wird.

Und was bleibt mir nach dem Gespräch mit Josin? Nicht zuletzt dies: Seither gehe ich mit wissenderen Augen durch die Dörfer des Unterengadin – wertschätzend, wie viel Sachverstand, Können und Fertigkeiten in den reich verzierten Fassaden der Häuser stecken!

Hüter der Vielfalt: Josin Neuhäusler, Susch

Nähere Infos zu Josin und seinen Kursen sind auf seiner Webseite zu finden: www.josin-sgraffito.ch. Seine ‚Sgraffito-Kurse für jedermann‘ bietet er auf Wunsch täglich an.

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.

Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:

  • 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
  • 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
  • 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
  • 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt arbeitet am Institut für Regionalentwicklung zur großen Vielfalt der Thematik ‚Lebendiges Kulturerbe‘.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b122239295

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