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Hans Karl Peterlini

VOM DISKURS ZUM DISPOSITIV: THEORETISCHE VORBEMERKUNG UND RAHMUNG

Wie wirken historische Rahmenbedingungen, öffentliche Diskurse und politische Entwicklungen auf hochschul- und wissenschaftspolitische Entscheidungen ein? Was kann zu Öffnungen, was zu Verschließungen führen? Diese Fragen lassen sich am Beispiel der Entstehungsgeschichte der Europäischen Akademie Bozen (Eurac Research)1 und der Freien Universität Bozen zwar nicht kausallogisch beantworten, wohl aber hermeneutisch explorieren. Die Überschaubarkeit des betroffenen sozialen Raumes, das Land Südtirol mit seinem Autonomiestreben innerhalb des Staates Italien, ermöglichen ein Abschreiten und Ausloten entscheidender Etappen auf dem Weg von der strikten Ablehnung universitärer Einrichtungen bis hin zum weniger geplanten als „passierten“ Durchbruch. Als Verstehens- und Analysemodell liegt der zeitgeschichtlichen Rekonstruktion die Freilegung, Sichtbarmachung und Reflexion von Diskursen (vgl. Foucault 1974; 1976; 2004, S. 164f.) zugrunde, die in Wechselwirkung an politischen Rahmenbedingungen entstehen und diese zugleich mithervorbringen, politische Haltungen ebenso verstärken, wie sie diese auch verändern können.

Die Gründung der Europäischen Akademie Bozen, das Bestreben, die Universität möglichst verzichtbar zu machen, wenn nicht gar zu verhindern, ist ein Teilschritt, der weitere Schritte eröffnet. Mit den Planungsarbeiten für die Europäische Akademie Bozen wird der hochschulpolitische Diskurs so verändert, dass dies auch der Universitätsgründung zuspielt. Ein solches Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren kann mit Foucault als Dispositiv verstanden werden (Foucault 1978; 1983). Über Gegebenheiten, Diskurse, Akteurinnen und Akteure greifen „Strukturen des Dispositivs“ (Kajetzke 2008, S. 92) ineinander und bringen einen Wandel hervor, der gar nicht intendiert war oder in diesem Fall sogar verhindert werden sollte. Nicht explizit herausgearbeitet werden können dabei ebenso wichtige, den Diskurs auf einer tieferen Ebene mitgestaltende ökonomische und soziale Einflüsse. Sie gehen implizit mit der politischen Entwicklung Südtirols einher, an der entlang die jüngere hochschulpolitische Geschichte in Südtirol rekonstruiert und ansatzweise dekonstruiert wird (vgl. Derrida 1990).2

DAS AUTONOMIESTATUT VON 1972: ZÄSUR MIT ZÖGERLICHEN FOLGEN

Die Südtiroler Autonomieära begann mit gedämpfter Begeisterung. Zu groß war – nach Jahren des Autonomiekampfes (Peterlini 2012, S. 143–215) – die Unsicherheit, wie dauerhaft und ausbaufähig die gewährte Autonomie wohl sein werde. 1972 trat das neue Autonomiestatut in Kraft, 1976 folgten die zwei wichtigsten Durchführungsbestimmungen – die Zweisprachigkeitspflicht im öffentlichen Dienst und die Aufteilung öffentlicher Stellen und Sozialwohnungen nach dem Sprachgruppenverhältnis (vgl. Peterlini O. 1980). Die autonome Gesetzgebung stand schon bald in einem Dauerkonflikt mit dem Staat. Der Reihe nach wurden Landesgesetze von der römischen Regierung rückgewiesen. Das lag auch daran, dass das Autonomiestatut als Konstrukt des institutionalisierten Misstrauens (Marko, Ortino & Palermo 2001, S. 995) auf eine kontrollierte Kooperation hin ausgerichtet war. „Rom nimmt mit der einen Hand wieder, was es mit der anderen gegeben hat“, kritisierte die Südtiroler Volkspartei (SVP) schon 1972 in ihrem Parteiorgan „Der Volksbote“ (18. Mai 1972, zit. n. Peterlini 2007b, S. 257).

Für neue Schritte in der Hochschulpolitik war damit weiterhin kein günstiges Klima gegeben. In den Jahrzehnten zuvor hatte die SVP jeglichen Vorstoß zur Gründung einer Universität in Südtirol als Versuch intellektueller Kolonisierung abgelehnt (Peterlini 2007a, 174–176). Christoph Pan, der als Student 1965 noch Öffnungen in der Universitätsfrage gewagt hatte, liquidierte 1975 als Leiter des „Wirtschafts- und Sozialinstitutes“ jegliche Bemühung mit dem Hinweis auf das Bekenntnis zur Landesuniversität Innsbruck durch SVP-Obmann Silvius Magnago auf der Landesversammlung vom 8. März 1975. Dies sei „der Schlußstrich unter die ideelle Auseinandersetzung […], welche bei anderem Ausgang eine ernstliche Bedrohung für die kulturelle Entwicklung der Südtiroler bedeutet hätte“ (Pan 1975, 9). Der damalige Landesrat für Schule und Kultur Anton Zelger sorgte sich mit den Metaphern „Maturitis“ und „Akademikerberg“ vor einem „Zuviel“ an höherer Bildung (SVP-Organ „Volksbote“, 20.9.1979, zit. n. Peterlini 2007b, S. 261).

Vorstöße für ein Umdenken in der Hochschulpolitik kamen SVP-intern von der Arbeitnehmerschaft, die 1979 mit der Südtiroler Hochschülerschaft (SH; damals noch nicht gendergerecht geschrieben) eine Studientagung zur Universitätsfrage abhielt. 1981 kam es zwischen Italien und Österreich zu Verhandlungen um einen „Interuniversitären Vertrag“, der von der SVP-Leitung äußerst skeptisch kommentiert wurde. Selbst wenn über ein bilaterales Abkommen der Autonomen Provinz Bozen bis dahin verweigerte Kompetenzen in der Hochschulpolitik zugestanden würden, könne diese „damit nichts anfangen, weil in Südtirol keine Universität besteht und auch nicht erwünscht ist“ (8.1.1982, zit. n. Peterlini 2007b, S. 262). Das 1982 geschlossene Abkommen erweiterte die Zusammenarbeit von österreichischen und italienischen Universitäten, mögliche Kompetenzübertragungen an das Land Südtirol wurden aber nicht angesprochen.

MACHT- UND GENERATIONENWECHSEL
MIT HOMÖOPATHISCHEN WENDEZEICHEN

Als 1988 in der SVP der Generationswechsel vollzogen wurde, ging dies nicht schmerzfrei: Silvius Magnago verzichtete, 74-jährig, auf eine Kandidatur für den Landtag (und damit nach 30 Jahren Amtszeit auf die Wiederbestätigung als Landeshauptmann), blieb aber noch SVP-Obmann. Alfons Benedikter, 70-jährig, ging mit dem erklärten Ziel in den Landtagswahlkampf, dem designierten Spitzenkandidaten Luis Durnwalder das Amt des Landeshauptmannes streitig zu machen. Um das Ressort für Schule und Kultur setzte nach dem Abtritt von Zelger, Jahrgangskollege Magnagos, ein Richtungskampf ein. Schließlich setzte sich der konservativ-patriotische Flügel mit Bruno Hosp gegen die progressiven Kräfte durch. Otto Saurer, der sich als SH-Vorsitzender positiv zur Universität geäußert hatte, blieb sein Wunschressort zugunsten des Gesundheitswesens verwehrt.

Dafür trat Durnwalder selbst, nach einem sensationellen Wahlerfolg, mit Erneuerungsschwung an: ein offener Umgang mit der italienischen Sprachgruppe, ein Aufeinanderzugehen bis hin zum Schulterklopfen in der Kontaktpflege mit der Basis. In seiner Regierungserklärung kündigte er „neue Inhalte“, „neue Schwerpunkte“, „neue Akzente“ an (10.3.1989, zit. n. ebd., S. 265). An der Rede hatten mehrere Hände und Köpfe mitgeschrieben. Für Wirtschafts- und Ausbildungsfragen setzte er auf vertraute Beamte in der eigenen Verwaltung – vor allem auf Friedrich Schmidl, einen damals vor der Pensionierung stehenden Beamten im Wirtschaftsressort, und auf Werner Stuflesser, den damaligen Leiter des Statistikamtes. Beide waren besorgt über den fehlenden akademischen Anschluss Südtirols.

In Durnwalders Rede fanden sich, freilich nur für Insider erkennbar, subtile Spuren dieser Einsichten. Unter dem Stichwort „Strukturwandel erfordert schnelle berufliche Anpassung“ hieß es in der Rede: „Beiträge für Forschung und Entwicklung in den Betrieben genügen aber künftig nicht mehr: Wir müssen im Lande selbst kleinere Forschungseinrichtungen schaffen, um wissenschaftliche Forschungstätigkeit auch bei uns zu ermöglichen. [...] Die Ausstrahlung solcher Aktivitäten auf die Wirtschaft ist vielfältig und in manchen Bereichen sogar unerlässlich. Dies gilt vor allem im Wettbewerb um den wissenschaftlich gebildeten Nachwuchs.“ Im Kapitel „Qualifizierte Aus- und Fortbildung“ war neben Schule und Berufsausbildung auch von „weiterführenden Bildungsgängen“ die Rede. Zum „kulturellen und wirtschaftlichen Wettbewerb, dem sich ein Grenzland in besonderer Weise stellen muß“, hieß es: „Neben der traditionellen beruflichen Ausbildung ist ein den wirtschaftlichen und beruflichen Erfordernissen entsprechendes Angebot an berufsqualifizierenden Kursen und Lehrgängen zu errichten. Dazu zählen vor allem auch berufsqualifizierende Kurse für Maturanten der allgemeinbildenden Schulen“ (ebd., S. 266).

SPRACHREGELUNG ZWISCHEN TABU
UND INNOVATIONSBEDARF

Die Worte „Universität“ oder „akademische Ausbildung“ kamen in der Rede nicht vor. Im Koalitionsprogramm beschränkte sich ihre Erwähnung auf die Anerkennung ausländischer Studientitel in Italien. Wie sehr diese Eingrenzung jeglichen Hochschuldiskurses brüchig wurde, zeigt sich an einer Avance der SVP-Kultursprecherin Martha Stocker: „Hier muß uns bewußt sein, daß dies allein nicht mehr genügt. Diese Frage ist für mich eine von höchster politischer Tragweite geworden, und daher muß hier auch auf höchster Ebene verhandelt werden“ (Stellungnahme vom 12.4.1989).

Die neue Sprachregelung war nun „postuniversitär“ – die Idee der Europäischen Akademie. In seiner Haushaltsrede im Dezember 1989 griff Durnwalder das Thema auf: „Wir sind auch der Meinung, daß in Südtirol einige postuniversitäre Einrichtungen gebraucht werden; wir haben ausgiebig darüber beraten, in welchen Bereichen – Forschung, Lehre oder Ausbildung – solche Einrichtungen geschaffen werden sollen. In erster Linie wird diesen Instituten aber auch eine wertvolle Beratungsfunktion für die Verantwortungsträger in Politik und Verwaltung zukommen“ (Rede vom 19.12.1989).

So sehr diese Öffnung zugleich mit der Ablehnung einer Universität verbunden war, so wenig ließ sich die Diskussion darüber verhindern. Der SVP-Abgeordnete Sepp Kußtatscher brach das Tabu: „Allerdings, die Ansätze, die im Bericht des Landeshauptmannes drinnen sind, sind meines Erachtens viel zu bescheiden. […] Es sollte meines Erachtens wirklich die Schaffung universitärer Strukturen auch in unserem Lande ernsthaft studiert werden. Das, was der Landeshauptmann auf Seite 9 in seinem Bericht gesagt hat, scheint mir da zu wenig zu sein. [...] Wenn in Südtirol weniger als 50 Prozent der Maturanten […] auf die Hochschule gehen, wenn während des Studiums mehr als die Hälfte dieser zunächst Inskribierten das Studium aufgeben und wenn schließlich nochmals dann mindestens ein Viertel der Hochschulabsolventen von den verschiedenen Studienorten nicht mehr in unser Land zurückkommen, und wenn weiters in den verschiedensten Wirtschaftsbereichen Akademiker fehlen, vor allem zweisprachige Akademiker fehlen, die unsre Landessprache können, wenn weiters als Beispiel in Trient nach 20 Jahren Universität niemand mehr auf diese Bildungseinrichtung verzichten würde und man gerne bereit ist, die hohen Kosten der Ausbildung für mehr als 5000 Studenten zu tragen, und wenn man gleichzeitig feststellte, daß vor allem Trient in den letzten Jahren verschiedenste Initiativen an sich gerissen hat und daß Trient wieder stärker zur Landeshauptstadt der Region Trentino-Südtirol wird, so ist sicher auch diese Bildungsinstitution Universität dort ausschlaggebend. Wenn kleine Länder wie Liechtenstein oder Luxemburg sich eine eigene Hochschule leisten, dann müßte doch zumindest ein gründlicheres Nachdenken auch bei uns einsetzen. ‚Nur ein paar Institute für die Verantwortungsträger in Politik und Verwaltung‘ – Zitat vom Landeshauptmann – das scheint mir zu wenig zu sein. Man könnte es böse formulieren, und zwar: ‚nur ein paar Institute zur Systemstabilisierung‘“ (Rede vom 10.1.1990).

Der Übergang von postuniversitären Einrichtungen zu universitären Strukturen war zu diesem Zeitpunkt eine rote Linie. Durnwalders Replik fiel hart aus, grenzte die Ablehnung aber auf „eine volle Universität“ ein. „Wir wollen vonseiten der Landesregierung keine Universität in Bozen. [...] Jedenfalls glaube ich, daß es sicher nicht im Interesse der Bevölkerung wäre, wenn wir eine volle Universität in Bozen hätten.“ (Replik von Luis Durnwalder, 17.1.1990) Für die postuniversitären Forschungseinrichtungen kündigte Durnwalder eine Sondierung der Fachgebiete an, „ob es auf dem Sektor der Geschichte, des Rechts ist oder ob es irgendwie bei der Ausbildung von Sprachen, Dolmetscher und so weiter ist, oder solche Einrichtungen. Wir sind dabei, das zu überlegen, aber auf jeden Fall wird es sicher auch in nächster Zeit keine Universität in Bozen geben“ (ebd.).

POSTUNIVERSITÄR VERSUS UNIVERSITÄR

Die Wortklauberei zwischen „Forschungseinrichtungen“, „postuniversitären Einrichtungen“, „Bildungseinrichtungen“, „universitären Strukturen“, „Volluniversität“ prägte die Hochschuldebatten der folgenden Jahre. Am konkretesten und konsensfähigsten kristallisierte sich das Projekt einer „postuniversitären“ Struktur, die mit der Gründung der Europäischen Akademie Bozen (Eurac Research) 1992 tatsächlich Wirklichkeit wurde. „Postuniversitär“ war eine Sicherheitsformel, mit der einerseits jede Universitätsgründung weiterhin bestritten werden konnte und andererseits doch dem wachsenden Selbstbewusstsein entgegengekommen wurde: Es garantierte den Status von Innsbruck als „Landesuniversität“ und erfüllte zugleich den Ehrgeiz, mit dem Durnwalder sein Amt angetreten hatte, Südtirol aus der Defensive herauszuführen und neue Perspektiven zu wagen. In diesem Sinne schien Eurac Research, vor allem auch vom konservativen Schul- und Kulturlandesrat Bruno Hosp so konzipiert, eine Einrichtung zur Verhinderung einer Universität durch Überspringung der universitären Ausbildungs- und Forschungsebene.

Einen einzigen Türspalt für „universitäre Einrichtungen“ (ohne das Wort in den Mund zu nehmen) hatte auch Durnwalder in seiner Replik auf Kußtatscher offen gelassen: „Sollte natürlich morgen vor allem die Ausbildung der Lehrer und so weiter anders gestaltet werden müssen oder sollten hier andere Studientitel verlangt werden und so weiter, dann bin ich der Meinung, daß wir, weil wir ja einen großen Kreis von Interessenten hätten, schon in Bozen dafür Sorge tragen müßten, daß wir gemeinsam mit anderen Universitäten hier diese Ausbildung garantieren müßten.“ Dies bezog sich auf die bevorstehenden Reformen durch Wissenschaftsminister Antonio Ruberti – einerseits eine Reform der Universitäten durch autonome, nicht mehr zentral gesteuerte Gestaltungsmöglichkeiten, andererseits die Anhebung der Kindergarten- und Volksschulberufe auf universitäres Niveau.

Eine zweite Öffnung deutete sich, subtil, ebenfalls schon in Durnwalders Replik an – ein erstes Rütteln an der Exklusivstellung der Universität Innsbruck. Die Abgeordnete der Union für Südtirol, Eva Klotz, warf Durnwalder in ihrer Haushaltsrede seine in einem Interview getätigten Aussagen vor, wonach „diejenigen, die Jus und Wirtschaft studieren, an italienischen Universitäten studieren sollten“. Die Universität Innsbruck hatte in den Jahrzehnten zuvor diese beiden Studien, Wirtschaft und Rechtswissenschaften, eigens auf Südtiroler Studierende zugeschnitten, damit diese nicht auf italienische Universitäten angewiesen waren. Durnwalder bekräftige in seiner Replik zwar Innsbrucks Rolle als Landesuniversität, beharrte aber darauf, „wenn jemand als Freiberufler, als Wirtschaftsberater oder Jurist tätig sein will, daß es dann für ihn sicher Vorteile bringt, wenn er an einer italienischen Universität studiert“ (Replik von Durnwalder, 17.1.1990).

DAS ZUSAMMENWIRKEN VON DISKURSEN, AGIERENDEN UND REGULATIVEN

Die Universitätsdebatte war damit nicht vom Tisch. Der SVP-Ausschuss für Schule und Kultur fuhr fort, Papiere zu entwickeln, der Landeswirtschaftsausschuss und sogar der Landwirtschaftsausschuss begannen über „universitäre Strukturen“ nachzudenken. Schließlich signalisierte auch Durnwalder ein Umdenken.

Wie konnte es so weit kommen? Zum einen brachte die Ruberti-Reform durch die universitäre Ausbildung der Kindergarten-Pädagogen und -Pädagoginnen und der Grundschullehrkräfte das Land Südtirol unter Zugzwang. So setzte die SVP eine eigene Kommission ein, um Licht in die Sachlage zu bringen. Zum anderen führte der Meinungsbildungsprozess innerhalb der SVP zu einer Versachlichung der Debatte.

Der Bericht der parteiinternen „Ruberti-Kommission“ (September 1990) lief auf ein Minimalprogramm hinaus: Lehrkräfteausbildung in Südtirol durch Anbindung an italienische und deutschsprachige Universitäten mit Vorzug für Innsbruck; als Standort wurde Brixen angegeben. Im April 1991 wurde in der Resolution Nr. 1 der SVP-Landesversammlung unter Punkt 10 auch die „Hochschulfrage“ behandelt (27.4.1991, Resolution Nr. 1, Punkt 10). Darin wurde – bei Wahrung der „Landesuniversität Innsbruck“ – die Einrichtung von universitären Ausbildungskursen für Kindergärtner und Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen der Grundschule befürwortet. Durnwalder wurde nun selbst aktiv und gab eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Das dafür formierte Team bestand aus Befürwortern einer Universität: der mittlerweile pensionierte Landesbeamte Schmidl, der zuvor eine Machbarkeitsstudie für das „Business Innovation Center“ erstellt hatte, der Pädagoge Gerwald Wallnöfer und der Gründungspräsident von Eurac Research Werner Stuflesser.

VON DER NICHT-MACHBARKEIT ZUR MACHBARKEIT

Inwieweit ursprünglich eher eine Nicht-Machbarkeitsstudie gewünscht war, ist selbst den damaligen Protagonisten nicht ganz klar (Gespräch mit F. Schmidl, 17.12.2006). Dasselbe gilt für die parallel von Landesrat Hosp eingesetzten Arbeitsgruppen. Eine Fachgruppe, bestehend aus Ulrich Runggaldier, Gottfried Tappeiner und Karl Zeller, prüfte die juridischen Aspekte. Eine zweite Fachgruppe mit den Schulamtsleitern für die deutsche und die ladinische Schule, Walter Stifter und Roland Verra, studierte Curricula für die Lehrkräfteausbildung. Die Statistiker Hermann Atz und Werner Stuflesser, der damit zweifach eingebunden war, versuchten, die voraussichtlichen Studierendenzahlen zu berechnen. Bei einer Aussprache zwischen Landesrat Hosp und drei Uni-Arbeitsgruppen im Oktober 1992 wurde, trotz deklarierter Skepsis des Landesrates, die Schaffung eines Sekretariates für die Planung der universitären Strukturen in Brixen beschlossen (Protokoll, 6.10.1992).

Im Jänner 1993 kam es zu einer vorentscheidenden Sitzung der Landesregierung. Landesrat Hosp meinte, dass man in Folge des Ruberti-Gesetzes für bestimmte Berufe, unter anderem im Gesundheitswesen, wohl „Fachhochschulen“ einrichten müsse. An dieser Stelle unterbrach Luis Durnwalder – wie es im Protokoll der Landesregierung wörtlich heißt – den Referenten Hosp und fragte ihn, ob er wirklich an „Fachhochschulen“ denke oder an „berufsausbildende Kurse im Bereich der Universität, wie sie vom Ruberti-Gesetz vorgesehen sind“ (Protokoll vom 15.1.1993). Hosp beharrte darauf, dass er an Fachhochschulen denke, für das pädagogische Personal aber „eine universitäre Struktur in Brixen“ vorschlage. Der italienische Landeshauptmannstellvertreter Remo Ferretti erwog eine Zusammenarbeit mit Innsbruck und Trient. Durnwalder lehnte dies mit dem Hinweis auf die Sprachproblematik ab. „Die zu gründende Universität“ dürfe weder von Trient noch von Innsbruck ein drittklassiger Ableger sein. Es sei nötig, im Rahmen des – nach dem Paketabschluss von 1992 gerade aktuellen – italienisch-österreichischen Freundschaftsvertrages, die Voraussetzungen für die Gründung einer eigenständigen und entwicklungsfähigen Südtiroler Universität zu schaffen. Und übergangslos zählte Durnwalder schon mögliche Lehrgänge auf, etwa für internationales Recht mit besonderem Blick auf den italienischen und den deutschen Sprachraum und für naturwissenschaftliche Fragestellungen zum Ökosystem der Alpen. Man müsse geeignete Nischen finden, mit denen sich „die zu gründende Universität“ profilieren könne. Die Landesregierung beschloss „seduta stante“, „einen Funktionär oder einen Experten“ zu beauftragen, der – in Zusammenarbeit mit einer zu bildenden Untergruppe der Landesregierung – die Voraussetzungen zur Schaffung einer Universität abklären sollte (ebd.).

KONKRETISIERUNGEN UND FEINSCHLIFFE

Im Februar 1993 ersuchte Landesrat Hosp die Europäische Akademie Bozen formell darum, dass diese „das ‚Projekt Universität‘ (Projekt zur Durchführung einer universitären Struktur in Südtirol) durchführt“. Aufgrund der „Dringlichkeit, mit der dieses Projekt gestartet werden soll“, erließ Werner Stuflesser am 12. März 1993 die „Dringlichkeitsverfügung des Präsidenten Nr. 1“: Eurac Research beschloss darin, „die Abwicklung des ‚Projektes Universitätʻ“ anzunehmen. Schmidl wurde mit einer Vorstudie beauftragt, die innerhalb „innerhalb 31.8.93“ vorzulegen sei (Dringlichkeitsverfügung Stuflesser, 12.3.1993).

Als am 11. Oktober 1993, unmittelbar vor den Landtagswahlen, die Landesregierung einen Grundsatzbeschluss traf, sah dieser – neben der Frage der Lehrerausbildung – vor allem die Fachhochschulen für Gesundheitsberufe vor. Zugleich beschloss die Landesregierung, alle Vorhaben im postsekundären Bereich Eurac Research zu übertragen. Damit hatten Stuflesser und sein wachsendes Team die Möglichkeit, neue Perspektiven zu erarbeiten und den Umschwung einzuleiten. Als Luis Durnwalder am 3. Februar 1994 seine zweite Regierungserklärung verlas, bildete die Universitätsfrage einen eigenen, nun positiv unterstrichenen Punkt: „Die Hochschule – eine Investition in die Zukunft.“ Die beschwichtigenden Formeln blieben aufrecht: Bekenntnis zur Landesuniversität Innsbruck und Absage an jede Versuchung zur Volluniversität, letztlich eine bessere Fachhochschule ohne Forschung, da diese Eurac Research vorbehalten bleiben sollte (Regierungserklärung Durnwalder, 3.2.1994).

Im Jänner 1995 beschloss die Landesregierung auf einer Klausurtagung in Lichtenberg die Konkretisierung: Erstellung eines Einreichprojektes für die Südtiroler Universität. Im Mai 1995 legte die Arbeitsgruppe von Eurac Research das Projekt „Hochschule Südtirol“ vor. Als bevorzugte Lösung wurde darin die Gründung einer „europäischen oder zumindest internationalen Institution nach dem Muster des Europäischen Hochschulinstitutes in Florenz“ vorgeschlagen. Eine „Europäische Universität“ hätte den Vorteil, dass damit auch die Rekrutierung deutschsprachiger Professoren per se gegeben sei. Eine alternative Lösung erblickte die Arbeitsgruppe in einer öffentlichen, aber freien Hochschule mit Numerus Clausus, gegründet durch Landesgesetz nach Übertragung der entsprechenden Zuständigkeiten vom Staat auf die Autonome Provinz. Und schließlich die „Minimallösung“: Eine „Freie Hochschule“ (Eurac
Research, Arbeitspapier „Hochschule Südtirol“, Mai 1995).

Dafür gab es ein Vorzeigebeispiel: das Libero Istituto Carlo Cattaneo in Castellanza. Ein solches Institut könne, so das Projekt, von Eurac Research praktisch aus dem Nichts gegründet werden. Als Fakultäten wurden vorgeschlagen: Erziehungswissenschaft, Sprachwissenschaft, Wirtschaft sowie mehrere universitäre Diplomstudiengänge für Gesundheitsberufe, Technik und Landwirtschaft. In einer zweiten Aufbauphase sollten Öffentliches Gesundheitswesen, Alpine Landwirtschaft „und eine weitere, noch zu bestimmende Fakultät“ dazukommen. Die angestrebte Größe: 3000 Studienplätze, davon rund 500 für die Lehramtsvorbereitung und bis zu 800 für die Fachhochschule für Gesundheitsberufe (ebd.).

In Fettschrift hervorgehoben wurde in diesem ersten Projekt ein Postulat für die Berufungen: „Eigenes, von den derzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen abweichendes Berufungsverfahren, welches erlaubt, eine unbeschränkte Anzahl von nichtitalienischen Professoren in den Lehrkörper aufzunehmen, und sicherstellt, daß ein wesentlicher Teil der Lehrkräfte dauernd vor Ort tätig ist.“

Ein ehrgeiziges Konzept – aber würde es auch Wirklichkeit werden? Die Idee einer „Europäischen Universität“ ließ sich schwerer verwirklichen als erhofft. Bei einer Südtirol-Besprechung am 22. Oktober in Telfs berieten Fachleute der SVP und aus Österreich noch einmal über die Möglichkeiten, die Südtiroler Universität zusammen mit österreichischen Einrichtungen zu errichten. Karl Zeller listete die dafür nötigen gesetzlichen Maßnahmen in Österreich und in Italien auf. Doch die Zeit drängte: Im November 1995 lief die Frist für die Aufnahme neuer Universitätsprojekte in den staatlichen Dreijahresplan zur Finanzierung von Universitäten ab. Eurac Research stockte das Team für die Universitätsgründung auf 20 Leute auf.

LETZTE GEGENSCHLÄGE UND DER DURCHBRUCH

Politisch stand das Projekt Universität 1995 noch einmal auf der Kippe, im Frühsommer gab es massive Kritik aus Nordtirol und Wien, so vom ÖVP-Clubobmann im Nationalrat Andreas Khol, der in dramatischen Tönen vor einer „Italianisierung“ durch die Universität warnte: „Für eine Weitererhaltung der Volksgruppe halte ich es für wesentlich, daß die Elite in der deutschen Sprache an österreichischen und Schweizer Universitäten ausgebildet wird.“ („Dolomiten“, 18.5.1995, zit. n. Peterlini 2007b, 292). Flankiert wurde die Anti-Uni-Front von prominenten Exponenten der SVP und von den „Dolomiten“, deren Chefredakteur Toni Ebner die Universitätspläne in einem Leitartikel als „Größenwahn“ bezeichnete und erneut den Geist der 60er-Jahre beschwor: „Die Südtiroler holen sich ein trojanisches Pferd ins Land, wenn sie auf eine staatliche Universität setzen“ (Dolomiten, 12.5.1995, zit. n. ebd., S. 293).

Durnwalder selbst dagegen war mittlerweile überzeugt. Unmittelbar vor einer der entscheidenden SVP-Parteileitungssitzungen im Juni 1995, in der die Universitätsgegner noch einmal mobilmachen wollten, vermeldete er eine positive Nachricht aus Rom. Wissenschaftsminister Giorgio Salvini habe ihm bei einer Aussprache feste Zusagen in allen kritischen Punkten gemacht: Berufung von bis zu 50 (statt fünf) Prozent Professoren aus dem deutschsprachigen Raum, Erhöhung der Pro-Kopf-Quote der staatlichen Zuschüsse aufgrund der Mehrsprachigkeit der Südtiroler Universität, Reduzierung des staatlichen Einflusses auf die Professorenauswahl auf 50 Prozent des Lehrkörpers (SVP-Beilage „Die ganze Woche“, zit. n. ebd.).

Es blieb ein prekäres Unterfangen. Von der Mitte-Rechts-Regierung in Rom kam Widerstand. Die Aufnahme des Südtiroler Einreichprojektes in das Dreijahresprogramm 1996–1999 wurde abgelehnt. Eine zweite Möglichkeit wäre die Finanzierung über ein Sondergesetz gewesen – auch dies wurde abgelehnt. Mit den Wahlen im Frühjahr 1996 kam der Umschwung von Mitte-Rechts zu Mitte-Links, es war die erste Amtszeit von Romano Prodi, dem Bruder des früheren Rektors der Universität Trient, Paolo Prodi. Dieser hatte der Südtiroler Landesregierung schon 1974 ein Kooperationsangebot gemacht, das das damalige Misstrauen gegenüber italienischen Universitätsplänen jedoch nicht überwinden konnte. Nun trug die Aufgeschlossenheit der Prodi-Brüder späte Früchte. Die Regierung akzeptierte die Einfügung eines Passus in eine Abänderung des Ruberti-Gesetzes: Es war die Grundlage für die Gründung der Freien Universität Bozen. Eurac Research, die sie verhindern hätte sollen, hatte die Grundlage gelegt.

Die ursprüngliche gedachte Aufgabenteilung – Eurac Research für die Forschung, Universität für die Lehre – hemmte anfangs vor allem die Entwicklung der Universität, bis sich diese mit unterschiedlichem Tempo der Fakultäten allmählich emanzipierte. Eurac Research, mit 12 Mitarbeitenden gestartet, entwickelte sich zu einer respektablen Forschungsstätte mit über 600 Mitarbeitenden, fast 90 EU-Projekten und 44 Prozent Drittmittelfinanzierung (Stand 2022). Neben den primär mit Südtirol verbundenen Themen wie Minderheitenrecht, Mehrsprachigkeit, Autonomie, Föderalismus, Regionalentwicklung sowie Alpine Umwelt kam Forschungsfeld um Forschungsfeld dazu: von Ötzi angetrieben die Mumienforschung, aber auch Public Management, Erneuerbare Energie, Erdbeobachtung und Global Mountain Safeguard Research. Nach derzeitigem Stand umfasst das Foschungszentrum elf Institute, fünf Zentren, darunter der terra-X-cube für Extremklima-Simulation. Die ungeplante Doppelstruktur von Universität und Eurac Research, ursprünglich beargwöhnt, ist einer gewissen Selbstverständlichkeit gewichen. Mit 2011 trat der damalige Universitätspräsident Konrad Bergmeister in den Verwaltungsrat von Eurac Research ein, 2015 übernahm Roland Psenner, Vizerektor der Universität Innsbruck die Präsidentschaft. Das Gebäude von Eurac Research an der Bozner Drususbrücke, architektonisch kühn aus einem ehemaligen faschistischen Gebäude herausgepellt, widerspiegelt solch integratives und transformatives Potenzial: Wo einst die Jugend auf den Faschismus eingeschworen werden sollte, entstanden wider alle Ängste institutionelle Meilensteine des neuen Südtirols.



Abstract

How do historical framework conditions, public discourses, and political developments affect higher education and science policy? What can lead to openings, what to closures in these policies? The article cannot answer these questions causally, but the example of the foundation-history of both the European Academy (Eurac Research) and the Free University of Bozen-Bolzano helps to explore them. The manageable size of the social space concerned, combined with the province of South Tyrol and its aspirations to autonomy within Italy, make it possible to trace decisive stages on the way from strict repudiation of university institutions to a politically less planned than “happened” breakthrough. As a model of analysis, the reconstruction of contemporary history is examined, based on description and reflection of discourses. These discourses emerge in interaction with political framework conditions and at the same time bring them about, reinforcing, but potentially also changing political attitudes. How it comes to the European Academy to make the university dispensable and how this finally co-initiated the university, can be understood as an example for the dispositive according to Michel Foucault. Circumstances, discourses, actors intertwine as “structures of the dispositive” and bring about a change that was perhaps not intended at all or, in this case, should have even be prevented.

LITERATUR

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1 „Europäische Akademie Bozen“ lautete die ursprüngliche Benennung,
die zunehmend und mittlerweile gänzlich dem Namen „Eurac Research“ gewichen ist.

2 Die historische Rekonstruktion beruht auf Peterlini H. K. 2007 und Obermair 2007, darunter vor allem auf Peterlini 2007a und Peterlini 2007b.