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Die Rolle der Sozialwissenschaft für Südtirols Zukunft

Roland Benedikter

Sozialwissenschaft entwickelt sich im Dialog mit ihrem Territorium. Das Ziel der Sozialwissenschaft an der Eurac Bozen ist eine gute Zukunft für Südtirol. Sieben Wissenschafts-Schwerpunkte werden dafür in den kommenden Jahren besonders spannend sein: eine Vorausschau.

 

2022 wird die Europäische Akademie Bozen – kurz Eurac Research – 30 Jahre alt. In den drei Jahrzehnten ihres Bestehens war sie eine aktive Mitgestalterin der Entwicklung Südtirols – eine Rolle, die in den kommenden Jahren voraussichtlich noch wichtiger werden wird. Die Forschung von Eurac Research befasst sich mittels regional angewandter Sozialwissenschaft mit den großen Herausforderungen, die die Südtiroler Gesellschaft beschäftigen: Integration inernationaler Entwicklungstrends; Innovationen in Gesundheit, Technologie, und Energie; Veränderungen der Demographie und Zukunft der Berufs- und Lebenswelt; Wirtschafts- und Sozialstruktur samt Koexistenz von Klein- und Mittelbetrieben und Industrie; gesellschaftliches Zusammenleben und Zukunft des Autonomiemodells. Gemeinsam mit Zivilgesellschaft und Entscheidungsträgern suchen Eurac-Mitarbeiter*innen Antworten  mittels lebensnaher Inter- und Transdisziplinarität. Mit alledem ist die Wissenschaft von Eurac Research seit 30 Jahren Motor und Spiegel der Entwicklung des Landes. Dabei erfüllt sie vor allem drei Rollen.

 

DREI ROLLEN

 

Die Rolle von Eurac Research ist es zunächst, Sammel- und Anknüpfungspunkt von 30 Jahren stetiger Verbesserung der Wissens-Zugänge zum Südtiroler Territorium zu sein: von internationaler und europäischer hin zu regionaler und lokaler Wissenschaft. Die Entwicklung ging hin zu immer stärker „glokalen“ Zugangsweisen. Also: von „universaler“ zu immer stärker territorial bezogener Erkenntnis. Mit anderen Worten: von „breiter“ zu „Präzisions“-Forschung für das Land für seine Menschen – ohne Verlust an Internationalität.

Warum das im Sinne des Allgemeinwohls ist, ist konkret sichtbar. „Glokale“ Wissenschaft wie die von Eurac Research versteht ein genau umrissenes Gebiet wie Südtirol und seine spezielle Situation mittels Anwendung vertiefender Erkenntnis-Methoden fortschreitend immer besser – und zwar ganz bewusst im Spannungsfeld zwischen lokalen und globalen Faktoren. Diese Verbindung funktioniert bei kleinen Gebieten sogar besser und effizienter als bei großen, eben weil sie überschaubar sind. Je mehr Parameter „glokalen“ wissenschaftlichen Verstehens auf die Lebens-Realitäten vor Ort angewandt werden, umso mehr Handlungsfähigkeit entsteht in der Folge durch Erkenntnis, Vernetzung und Integration. Ergebnis ist ein immer präziseres Handlungs-Bild eines lebendigen und differenzierten Ganzen. „Glokale“ Wissenschaft macht ein Gebiet wie Südtirol mit der Zeit immer selbstbewusster – im mehrfachen Sinn des Wortes. Sie schafft Kenntnis des Eigenen – und dient damit der aktiven, selbst gewollten und gestalteten Evolution. Das wirkt sich auf das öffentliche Bewusstsein ebenso aus wie auf die Fähigkeiten der Bürger*innen zur Mitgestaltung. In diesem Sinn ist angewandte Wissenschaft eine positive Autonomie-Kraft – für Land und Leute gleichermaßen. „Denke lokal und handle global“ erweist sich dabei als ebenso wichtig wie – im Gegenzug – „Denke global und handle lokal“. Beide Devisen sind in Zeiten globaler Systemkrisen, die sich auch auf Südtirol auswirken und immer auch eine Chance darstellen, nur mehr im Zusammenspiel produktiv und sinnvoll.

Die Wissenschaft von Eurac Research ist – in diesem Sinn – zweitens seit 30 Jahren Beweis für die Sinnhaftigkeit und Effizienz von Inter- und Transdisziplinarität. Wer sich pragmatisch-entwicklungsorientiert auf ein Territorium bezieht und dabei Globales und Lokales zur Lösung konkreter Herausforderungen verbindet, kann nicht nur von einem Ansatz, einer Sichtweise, einer Disziplin oder einer Methode ausgehen. Er oder sie muss vielmehr „kybernetisch“ denken und handeln – also verschiedene Methoden, Forschungs- und Erkenntnisformen miteinander verbinden, um wachsende Komplexität zu verstehen und zu bewältigen. Das bedeutet die Einbeziehung von methodischen Ansätzen aus allen sechs Schlüsselbereichen modern ausdifferenzierter Gesellschaft:  Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Demographie und Technologie.

Diese sechs großen Bereiche, ihre Interessen und Vertretungen gestalten in ihrem Wechselspiel auch Südtirol. Alle sechs Bereiche fließen in der Praxis vieler konkreter Einzelentwicklungen, die für unser Land wichtig sind, ineinander: in Tourismus, Landwirtschaft, Raumordnung, Verwaltung, Produktion und Konsumption sowie Dienstleistungen. Aus den Überschneidungspunkten dieser Faktoren ergeben sich auch die wichtigsten Standortstrategien. Darunter sind vor allem die zwei großen Entwicklungs-Dachstrategien Südtirols bis 2030: die RIS3-Strategie (Regionale Innovations- und Intelligente Spezialisierungs-Strategie), die von der EU für die Zuweisung von Geldern vorgeschrieben ist, und die Nachhaltigkeitsstrategie. Für diese Strategien gilt ebenso wie für angewandte Sozialwissenschaft: Erst wenn man die Erkenntnisse verschiedener Disziplinen miteinander verbindet, entsteht ein Bild, das der fließenden Komplexität eines Landes und seiner Gesellschaft gerecht wird. Deshalb ist Eurac Research im Lauf ihrer Geschichte immer stärker zur Entwicklerin, Anbieterin und Dienstleisterin praxisorientierter Multi-, Inter- und Transdisziplinarität für verschiedenste Bereiche der Südtiroler Gesellschaft geworden.

Drittens spiegeln 30 Jahre Eurac Research die Entwicklung Südtirols hinsichtlich Modernisierung und Europäisierung wider. Angewandte Sozialwissenschaft stand für Südtirols zunehmende Verankerung in einem wissenschaftsgestützten – und von Wissenschaft informierten – Europa-Diskurs: einer öffentlichen Rationalität, die sich dem europäischen Gedanken seit den 1990er Jahren immer weiter öffnete und ihn lokal zu verwirklichen suchte.1 Das hat die politische und soziale Debatte im Land reicher und im Horizont weiter gemacht. Südtirol kann stolz darauf sein, was es in den vergangenen 50 Jahren – seit der Einsetzung des heutigen Autonomiestatuts 1972 und seiner Weiterentwicklung seitdem – an Europäisierung erreicht hat. Viele Kolleg*innen im Norden und Süden beobachten: Südtirol fühlt sich heute europäischer an als viele andere Regionen.  Eurac Research war mittels Wissenschaft eine Treiberin dafür. Sie stand und steht für die Einbettung von Südtirols Öffentlichkeitskultur in überregionale und europäische Zusammenhänge, aber auch für deren Kontinuität in sozialer Eigenständigkeit und politischer Unabhängigkeit. Deshalb waren und sind die gesellschaftspolitischen Debatten am Schnittpunkt zwischen Südtirol und Europa und die wissenschaftlichen Beiträge von Eurac Research seit 30 Jahren untrennbar miteinander verbunden – in produktiver wechselseitiger Dialektik.

 

EINE BEMERKENSWERTE HISTORISCHE ÜBERSCHNEIDUNG: DER 30. GEBURTSTAG VON EURAC RESEARCH FÄLLT MIT DEM BEGINN DER RE-GLOBALISIERUNG ZUSAMMEN

Nach 30 Jahren ist nun am Überschneidungspunkt dieser drei Beitrags-Achsen – „glokale“ Wissenschaft für das Territorium, Inter- und Transdisziplinarität für alle Bereiche, Europäisierung – für die Entwicklung des Landes ein gewisser Reifepunkt erreicht. Er fällt historisch mit dem Moment eines Umschlagpunkts internationaler Entwicklung überein. Das europäische und globale System, in das Südtirol eingebettet und von seine Autonomie auch abhängig ist, verändert sich in seinen Grundzügen.2 Inwiefern?

Die Globalisierung hat seit einigen Jahren, wie die meisten Symptomcluster zeigen, einen Punkt erreicht, an dem sie nun reformiert und besser an lokale und regionale Bedürfnisse vor Ort angepasst werden muss.3 Reformen der Globalisierung sind nötig, damit ihre – zum Beispiel durch Covid-19 und Russlands Ukraine-Krieg, aber auch anhand von Umwelt- und Migrationskrisen – inzwischen deutlich sichtbaren problematischen Effekte nicht ihre positiven Wirkungen wie Handelsvernetzung, Informationsaustausch und freie Mobilität übersteigen. Reformen sind auch nötig, um das gesellschaftliche Vertrauen in der Praxis lokaler Gemeinschaften und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu stärken und zu verhindern, dass die Gesellschaft auch wegen nicht bewältigter Globalisierungseffekte auseinanderbricht – so wie wir es in Ansätzen bei den jüngsten Krisen erlebt haben.

Für eine positive Zukunft müssen globale Mechanismen deshalb besser an lokale und regionale Verhältnisse angepasst, also „glokalisiert“ werden. Das heißt: Sie müssen sich besser als bisher mit regionalen und lokalen Bedürfnissen verbinden. Und sie müssen sich präziser in den Dienst der sehr verschiedenen Anforderungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen stellen, damit Ungleichheit vermieden wird und Solidarität nicht verloren geht. Dazu ist, wie es im Wissenschaftsjargon heißt, eine „Kontextualisierung“ von Globalisierungwirkungen nötig. Das bedeutet: Weggehen vom Alles-über-einen-Kamm-Scheren – und stattdessen regionale Unterschiede und lokale Diversitäten für die Handhabung von Globalisierungswirkungen wie Migration, Umwelt- und Klimafrage, neue Technologien, kulturelle und religiöse Diversität sowie demographische Verschiebungen berücksichtigen. Damit ist umgekehrt eine realistischere Handhabe, vielleicht sogar langfristig eine Vermenschlichungshoffnung der Globalisierung verbunden – deren Mechanismen bisher vielen, vor allem im Globalen Süden, als unmenschlich erscheinen. Man kann diesen Umschlagspunkt der Globalisierung, die heute ihr Gesicht verändert, „Re-Globalisierung“ nennen.4 Dazu besteht am Center for Advanced Studies von Eurac Research ein Forschungsschwerpunkt.5 Mit dem seit Juli 2022 ebenfalls am Center for Advanced Studies der Eurac bestehenden UNESCO Chair für Interdisziplinäre Antizipation und global-lokale Transformation kommt ein Ansatz dazu, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen an der Reform der Globalisierung mitzuarbeiten – und darin Erfahrungen Südtirols einzubringen.

Südtirol kann mit seinen Beiträgen hier in den kommenden Jahren ein Wegbereiter unter vielen für einen auf Dialog gegründeten Weg in diese „Re-Globalisierung“ sein – und zwar mittels der lokalen Verwirklichung von „Glokalisierung“. Es geht um die wissenschaftliche Unterstützung einer besser vor Ort verankerten, deswegen aber nicht weniger internationalen Gesellschaftsentwicklung.

Angewandte Wissenschaft kann dabei eine zentrale Rolle spielen. Denn heute heißt sozialwissenschaftliche Forschung in erster Linie: den Umbruch von einer allgemeinen (und oft verallgemeinernden) hin zu einer spezifischeren (und praktisch nützlicheren) Globalisierung so zu begleiten, dass es möglich wird, große Entwicklungen mit lokalen Fortschritten zu verbinden. Also: den „übermenschlichen“ Prozess der Geschichte, der sich manchmal von den Menschen zu entfernen und zu verselbstständigen scheint, wieder enger mit den Menschen zu verbinden.

Das ist kein einmaliger Vorgang. Ganz im Gegenteil: In den kommenden Jahren wird „Glokalisierung“ zu einem dauernden Prozess werden, der nicht zum Abschluss kommen wird. Sie stellt eine Daueraufgabe für europäische und zugleich autonome Territorien wie Südtirol dar. Neben bekannten Kräften und Faktoren müssen dazu auch die sich häufenden internationalen und globalen Krisenbündel einbezogen werden, die immer öfters zu „Bündelkrisen“ führen.6 Die Bemühung um „Glokalisierung“ stellt sicher, dass globale Entwicklungen und lokale Verhältnisse besser harmonieren und sich gegenseitig inspirieren. Sozialwissenschaft wirkt daran mit, arbeitet positiv an den Nähten zwischen lokal und global.

Zusammenfassend kann man mit Blick auf die kommenden Jahre sagen: das „Glokale“ wird immer mehr zu einer Präzisionsaufgabe, weil das Kleine und das Große immer intensiver voneinander abhängig werden. Die in Europa sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit Globalisierung werden zu wirklichen Schlüsselfaktoren, damit sich die europäischen Gesellschaften nach den Brüchen der Europäischen Schulden- und Wirtschaftskrisen, der Migrationskrisen, der Trump-, Brexit-, Covid-19- und Ukraine-Krisen gut weiterentwickeln können. Lokale Gemeinschaften werden zu immer wichtigeren Anpassern, Korrektoren und Verbesserern. Sie entwickeln „beste Praktiken“, die sie als Fallbeispiele bereitstellen. Das hilft den Gestaltern globaler Einrichtungen, im Dienst des Allgemeinwohls differenzierter und genauer zu agieren. Sozialwissenschaft spielt dabei eine Versachlichungs- und Orientierungsrolle.

 

 

DREI INNOVATIONSANSÄTZE

Südtirol hat im Tiefenverständnis seines Territoriums und mit der „Kontextualisierung“ von Globalisierung mittels angewandter Wissenschaft in den vergangenen Jahren Vorzeigenswertes erreicht. Das Land kann hier auf einer guten und soliden Grundlage weiterarbeiten. Es geht um die immer neue – und möglichst dauerhafte – Verknüpfung von Ganzheitlichkeit des Blicks mit Detailgenauigkeit von Umsetzungen. Beides ist nicht immer leicht in Einklang zu bringen. Eurac Research war auch hier seit ihren Anfängen eine Wegbereiterin. Sie kann bei den weiteren Schritten, die voraussichtlich auch in die Zukunft angewandter Sozialwissenschaft mittels Inter- und Transdisziplinarität führen7, auf vielfältige Erfahrung aufbauen, die sie ständig neu zur Verfügung stellt.

Das schließt die fortlaufende Integration neuer und innovativer Ansätze der Wissensgewinnung und -distribution ein. Drei innovative Methoden für die kommenden Jahre sind die Kollektivitätsforschung, die Multi-Resilienzforschung und der UNESCO-Ansatz der „Zukünftebildung“ (Futures Literacy).

Kollektivitätsforschung – bzw. Kollektivwissenschaft – ist Forschung und Diskussion über das, was Gesellschaft zusammenhält und Vertrauen in der Gemeinschaft fördert.8 Multi-Resilienzforschung ist Forschung darüber, welche Faktoren ein Gebiet widerstandsfähiger gegen Krisen machen – und wie Südtirol mittels Zusammenführung verschiedener Resilienz-Strategien einen weiteren Qualitäts-Sprung in seiner Entwicklung vollziehen kann. Es geht nach der Erfahrung der jüngsten Krisen darum, Resilienz und Nachhaltigkeit besser als bisher miteinander zu verbinden – und den Weg in eine „resiliente Nachhaltigkeit“ und eine „nachhaltige Resilienz“ zu gehen.9 Zukünftebildung, Zukunftsdialog und Zukunftsantizipation für Südtirol können wissenschaftlich am Beispiel der UNESCO „Futures Literacy“10 (FL) aufgebaut und dann gemäß den Anforderungen und Wünschen vor Ort stetig angepasst werden. Weil die Halbwertszeiten von Innovation kürzer werden, müssen wir uns im Kopf und im Herzen auf Zukunft einstellen – und uns in Zukunftsfähigkeit so ausbilden wie bisher im Lesen und Schreiben. Dazu gibt es heute den innovativen Ansatz der „Futures Literacy“. Dieser Ansatz ist Teil der neu entstehenden „Disziplin der Antizipation“ – sie dient dem „Gebrauch der Zukunft in der Gegenwart“.11 „Antizipation“ wird von globalen Organisationen wie der UNO länder- und regionenübergreifend entwickelt und mittels „Reallaboren“ – sogenannten Zukunftsbildungs-Laboratorien – vor Ort verwirklicht. Dabei geht es nicht darum, sich eine einzige Zukunft vorzustellen, sondern viele verschiedene mögliche Zukünfte zueinander in Beziehung zu setzen. Das offene, allgemein zugängliche Gespräch zwischen Bürger*innen, Zivilgesellschaft und Entscheidungsträgern über diese Zukünfte setzt Bewusstsein über die Vielfalt von Zukunft in der Gegenwart frei. Zukunft wird dadurch „nutzbar“ für die Gegenwart – sie inspiriert die Gegenwart aus der Zukunft heraus. Dadurch verändert sie das Hier und Jetzt, lange bevor manche der möglichen Zukünfte tatsächlichen eintreten. Mit der Verwirklichung von Zukunftsbildung und Zukunftsforschung für alle Bürgerinnen und Bürger sowie für Interessensverbände, Politik und Wirtschaft kann Südtirol an innovative Politikentwicklungsansätze wie zum Beispiel den „Zukunftskreis“ des Deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) anschließen.12

 

 

SIEBEN MÖGLICHE WISSENSCHAFTS- UND FORSCHUNGS-SCHWERPUNKTE FÜR DIE KOMMENDEN JAHRE

Zusammenfassend könnten vor allem sieben Forschungsschwerpunkte für die weitere Entwicklung inter- und transdisziplinärer Sozialwissenschaft in Südtirol interessant sein. Sie könnten in den kommenden Jahren praktisch und theoretisch ausgebaut werden:

1.      Transformationsforschung am Schnittpunkt lokal-global („Glokalisierung“ und Kontextualisierung);

2.      Re-Globalisierung;

3.      Kollektivitätsforschung;

4.      Zukunftsforschung und „Zukünftebildung“ (Futures Literacy), einschließlich Einrichtung von „Future Literacy Laboratories“, also Zukünftebildungs-Laboratorien für Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik;

5.      Multi-Resilienz, einschliesslich multimodale Risikoforschung und Risikoantizipation;

6.      Integration von Nachhaltigkeit und Resilienz zu „resilienter Nachhaltigkeit“ und „nachhaltiger Resilienz“; und

7.      Inter- und Transdisziplinarität als umfassende, alle Einzelbereiche durchdringende Kernkompetenz.

Es ist wahrscheinlich, dass diese sieben Schwerpunkte in den kommenden Jahren noch stärker als bisher ineinandergreifen und sich gegenseitige beeinflussen werden. Das kann Auswirkungen auf verschiedenste Gesellschafts-Bereiche entfalten.

Wenn man diese sieben Schwerpunkte zusammennimmt, ist damit die Verwissenschaftlichung des Gespürs für den großen Veränderungsprozess verbunden, der auch regional zum Tragen kommt. Dieses Gespür wird in Zeiten der globalen Systemverschiebung wichtig. In ihrer wechselseitigen Produktivität können die genannten sieben Schwerpunkte insbesondere der Nachhaltigkeitsidee erweiterte Inhalte verleihen, die Südtirol als Gesamtstrategie leitet und darin die RIS3-Strategie ergänzt und überwölbt.

 

 

EINE ZUKUNFTSFRAGE: BRAUCHEN WIR AUCH NEUE SCHULFÄCHER?

Davon können dann auch schulische Impulse ausgehen. Dem Schulsystem kommt in Südtirol eine zentrale Rolle für die breitere Relevanz von Sozialwissenschaft zu. Eurac Research arbeitet seit Jahren mit Schulen zusammen, um Wissenschaft und die Freude daran jungen Menschen näher zu bringen – was sehr gut angenommen wird.

Die Frage ist, ob Wissenschaft und Forschung mit ihrer Bahnung von Zukunftswegen mittelfristig auch neue Schulfächer anregen können – seien sie nun eigene Fächer (was im italienischen Kontext eher schwierig erscheint) oder aber transversale Lernbausteine quer durch verschiedene Fächer. Sozialwissenschaften könnten Lernbausteine für die autonomen Südtiroler Schulsysteme bereitstellen, so zum Beispiel:

-          Glokalisierung als Teil der gesellschaftlichen Bildung;

-          Tech Literacy, darunter zum Beispiel Internetrechte und Dateneigentum als Teil von Wirtschafts- und Rechtsbildung;

-          Zukunftsbildung, sei es als eigenes Fach oder als Querschnittkompetenz.

Daneben gewinnen heute auch Risikoforschung sowie Risikoantizipation in Erziehungszusammenhängen stärkeres Gewicht. Denn Krisenbündel wollen auch in der mentalen Bereitschaft und im „vernetzten Können“ der Bürger*innen – so zum Beispiel in Form von kollektiven Problemlösungs-„Hackathons“ im Internet oder als kollektive Weisheit – antizipiert werden, um möglichst wenig Schaden anzurichten.

 

 

AUSBLICK: EINE MUT MACHENDE PERSPEKTIVE!

Wo liegt die Perspektive? Sie liegt in einer Zukunft, die Mut macht! Sozialwissenschaft in Südtirol wird sich in den kommenden Jahren in eine Entwicklung eingliedern, in der Wissenschaft nicht nur Erkenntnissuche zur Förderung des Fortschritts, sondern auch „Wissenschaftsdiplomatie“ zwischen verschiedenen Interessen und gesellschaftlichen Kräften ist. Wichtig wird auch die weitere Stärkung der Beziehungen zu vergleichbaren Regionen sein, was umgekehrt eine ständige Selbstevaluation zum Standard macht. Ein besonderes Augenmerk wird der Anbindung an EU-Forschungsinitiativen gelten, der gleichberechtigten Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit der lokalen Zivilgesellschaft und einer möglichst breiten Gemeinschaft von Teilhabenden vor Ort (oder „stakeholdern“). Der Entwicklung inter- und transdisziplinärer Forschungsprogramme in den  genannten Schwerpunktbereichen, der Findung von kontextbezogenen Nischensektoren sowie der Stärkung der Anziehungskraft auf die jungen Generationen wird ebenso Aufmerksamkeit gewidmet werden wie der Beratungs- und Evaluationskultur in Politik und Schulen. An der Schnittstelle von Wissenschaft und Verwaltung wird auch Entbürokratisierung mittels wissenschaftsgestützter Technologien wie Künstliche Intelligenz und Blockchain zum Thema. Sie kann künftig bei der Integration von Gesetzen nützlich werden.

Sozialwissenschaft in Südtirol ist in all diesen Bereichen gut aufgestellt – und bereit für eine positive Zukunft im Dienst des Landes und seiner Menschen.

 

 


1 https://www.suedstern.org/stories/show/269-sudtirols-kunftige-identitat-brucke-fur-europaismus-und-globalisierung.

2 https://globalejournal.org/global-e/august-2019/globalizations-current-transition-phase-5-rs.

3 https://www.routledge.com/Re-Globalization-New-Frontiers-of-Political-Economic-and-Social-Globalization/Benedikter-Gruber-Kofler/p/book/9780367642846.

4 https://doi.org/10.1515/ngs-2020-0051

und https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/ngs-2020-0051/pdf.

5 https://globalejournal.org/series/re-globalization.

6 Siehe dazu genauer https://brill.com/view/title/60830.

7 https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/die-zukunft-der-sozialwissenschaft-id-68677/.

8 Universität Regensburg: Kollektivwissenschaft: Paradigma Kollektivität, https://www.uni-regensburg.de/sprache-literatur-kultur/kultur-kollektivwissenschaft/kollektivwissenschaft/index.html.

9 https://intpolicydigest.org/2017/09/17/what-is-a-resilient-society/

10 Riel Miller (ed.): Transforming the Future: Anticipation in the 21st Century, Routledge 2018, https://www.routledge.com/Transforming-the-Future-Anticipation-in-the-21st-Century/Miller/p/book/9780367855888.

11 Roberto Poli (ed.): Handbook of Anticipation. Theoretical and Applied Aspects of the Use of Future in Decision Making, Springer 2019, https://link.springer.com/referencework/10.1007/978-3-319-91554-8.

12 Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Mit Foresight in die Zukunft schauen. Der Zukunftskreis, https://www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/zukunftstrends/foresight/mit-foresight-in-die-zukunft-schauen.html.