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Warum wir kein Ministerium für Bildung und Leistung brauchen. Ein Plädoyer für eine Orientierung an Bildungsgerechtigkeit.

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Warum wir kein Ministerium für Bildung und Leistung brauchen. Ein Plädoyer für eine Orientierung an Bildungsgerechtigkeit.
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Im Rekordtempo hat die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ihr Regierungsteam präsentiert und die Umbenennung mehrerer Ministerien angekündigt. Diese Neubenennungen sind kein zufälliger Oberflächendekor einer Regierung, die euphemistisch als „Mitte-Rechts-Regierung“ bezeichnet wird. Vielmehr handelt es sich um programmatische Bezeichnungen, die Rückschlüsse auf die ideologische Richtung zulassen, in die sich Italien bewegen soll. Eines der Ministerien trägt nun den Namen „Istruzione e Merito“ - „Bildung und Leistung“, was breite Kontroversen ausgelöst hat. Was aber ist das Problem am „merito“?

Die Frage, welche gesellschaftliche Rolle Schule spielt und was und wie Kinder und Jugendliche darin lernen sollen, beschäftigt das Nachdenken über Bildung seit Platon. In vielen Ländern hat sich Schule im Laufe der letzten Jahrhunderte von einem System für Kinder (vor allem: Söhne) von Eliten zu einem gewandelt, das sich – in Form einer ‚Schulpflicht’ – zumindest formal für alle Kinder und Jugendlichen öffnete. In modernen Bildungssystemen hat Schule mehrere Funktionen: Sie dient der Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung und hat die Aufgabe, junge Menschen auf ihre späteren beruflichen Positionen und andere soziale Rollen als Erwachsene vorzubereiten. Die beruflichen Positionen stehen in einem hierarchischen Verhältnis, genießen unterschiedliches gesellschaftliches Ansehen und werden unterschiedlich entlohnt. Schule ist eine zentrale Instanz zur Verteilung von Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie: Sie vergibt unterschiedliche Schulabschlüsse, mit denen Jugendliche Zugang zu unterschiedlich bezahlten und gesellschaftlich angesehenen Positionen erhalten. Damit tragen Bildungstitel auch dazu bei, gesellschaftliche Ungleichheiten herzustellen und zu verfestigen.

In den letzten Jahrzehnten hat international eine grundlegende Veränderung von Bildungssystemen stattgefunden, und zwar in Richtung einer stärkeren staatlichen Kontrolle über Lehrpläne und einer Orientierung an messbaren Ergebnissen. Lehrer*innen sind angehalten, ihre Klassen auf standardisierte Tests vorzubereiten, anstatt Unterricht zu gestalten, der im Einklang mit dem Lehrplan an den Interessen und Voraussetzungen der Schüler*innen und den eigenen Schwerpunkten orientiert ist. Aus Bildungsarbeit wird damit zunehmend Fließbandarbeit, deren Effizienz sich an der Produktion arbeitsmarktkompatibler junger Menschen bemisst. In dieser neoliberalen Logik werden Bildungsinstitutionen wie Firmen betrachtet, deren Management, trotz zunehmender Einsparungsmaßnahmen, für ‚Output‘ zu sorgen hat. Dies führt zu einer zunehmenden Entmenschlichung des Schulapparats, der für alle Beteiligten überfordernd und frustrierend sein kann: es ist vermutlich kein Zufall, dass die Anzahl von gesunden Schüler*innen, die leistungssteigernde Medikamente verschrieben bekommen, laufend steigt, und dass viele Pädagog*innen von Burnout betroffen sind.

In manchen Ländern ist die mit Leistung begründete soziale Ungleichstellung besonders stark institutionalisiert, und Kinder werden bereits nach einer vierjährigen Grundschule in verschiedene Schultypen aufgeteilt und sozial segregiert. Dort lernen sie, welche gesellschaftlichen Positionen sie später einnehmen können und vor allem, welche ihnen verschlossen bleiben. In der klassischen Studie Learning to Labour beschrieb Willis am Beispiel männlicher, weißer Jugendlicher der englischen Arbeiterklasse, dass diese dem Aufstiegsversprechen der Schule misstrauten und Oppositionsstrategien gegen Lehrer*innen, intellektuelle Arbeit und die Schule entwickelten. Ihre Abgrenzung zeigte sich unter anderem in einem Sexismus gegenüber Mädchen und in rassistischen Perspektiven auf Migrant*innen. Wellgraf zeigte am Beispiel einer Berliner Hauptschule, dass Hauptschüler*innen in einem meritokratischen System als faul und defizitär gelten, und dass migrantische Jugendliche, die an Hauptschulen überrepräsentiert sind und denen die Gesellschaft unter dem Deckmantel von Leistung den Einstieg in ein würdiges Berufsleben erschwert, vergleichbare Oppositionsstrategien gegen Schule und Bildung entwickeln. Zu diesen Strategien zählen aggressive Männlichkeit, Frauenfeindlichkeit sowie die Ablehnung sexueller Identitäten, die nicht in konservative Muster passen.

Bislang war Italien für sein inklusives System bekannt, das versucht hat, allen Schüler*innen ein glaubhaftes Aufstiegsversprechen zu geben. Daneben wird in die Forschung und in die Entwicklung von Rahmenbedingungen investiert, um Kinder und Jugendliche, die als wenig leistungsstark und ‚verdienstvoll‘ gelten, bestmöglich zu unterstützen. Mit der neuen Orientierung an der Leistung wird ausgeblendet, dass das aktuelle Regierungsprogramm eine neue Unterschicht produzieren könnte, die sich nicht gegen die Eliten auflehnt, sondern die Schuld für die eigene Marginalisierung bei sich selbst sucht. Diese Individualisierung von Verantwortung wird besonders gut im folgenden Zitat von Meloni sichtbar: „Tutti nella stessa linea di partenza ma non tutti sulla stessa linea di arrivo, quello deve dipendere da te.“ 1 - „Alle auf der gleichen Startlinie, aber nicht alle auf der gleichen Ziellinie, das muss von dir abhängen.“

Bildungsstatistiken und die internationale Bildungsforschung 2 zeigen übereinstimmend, dass es keine ‚gleiche Startlinie‘ gibt, und dass das Erreichen der Ziellinie in hohem Maße strukturell mitbestimmt ist: Es hängt weniger vom individuellen ‚Leistungswillen’, sondern zu einem hohen Anteil von den Privilegien ab, mit denen ein Kind aufwächst. Kinder, deren Eltern sie nicht bei schulischen Fragen unterstützen und sich keine teure Nachhilfe leisten können, sind nur in Einzelfällen in der Lage, den Startnachteil, mit dem sie in die Schule kommen, auszugleichen. Das meritokratische Prinzip führt allerdings dazu, dass gesellschaftliche Ungleichheiten beim Zugang zu Bildung gerecht aussehen und dass es nicht weiter überrascht, wenn das Kind einer Richterin und eines Arztes in ein Privatgymnasium geht, während das Kind einer Reinigungskraft und eines Fabrikarbeiters sich auf einen Verkaufsjob in einem Bekleidungsgeschäft vorbereitet. Überlegungen zur Frage, wie soziale Ungleichheiten in der Schule vermindert werden können, werden mit dem Bezug auf individuelle Leistung überflüssig. In der Logik des aktuellen Regierungsprogramms wird das Scheitern des Bildungssystems bei der Überwindung struktureller Benachteiligung nämlich als individuelle Fehlleistung einzelner Schüler*innen umgedeutet. Kinder, die in diesem System benachteiligt sind, werden als wenig leistungsstark und ‚verdienstvoll’ und damit selbst für ihr Scheitern verantwortlich gemacht.

Weil die Schulpflicht für alle gleichermaßen gilt, ist die Schule die zentrale Institution, in der Kinder in Austausch mit anderen Kindern treten, die in ganz anderen sozioökonomischen und kulturellen Verhältnissen aufwachsen. Dieses Potential kann kaum hoch genug geschätzt werden. Schule kann ein Ort sein, an dem Kinder in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen und mit für sie neuen Themen unzählige Möglichkeiten denken lernen. Das ist eine zentrale Voraussetzung für die individuelle Entwicklung und für das Erlernen demokratischer Prozesse und den Umgang mit sozialer Differenz und Vielfalt, die für moderne Gesellschaften typisch ist. Eine Orientierung an der individuellen Leistung fördert weder Kommunikation mit anderen, noch Neugierde oder kritisches Denken.

Der Philosoph und Politiker Antonio Gramsci, der vom faschistischen Regime verhaftet wurde und an den Folgen dieser Haftstrafe starb, setzte sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit auch mit Bildung auseinander. Er hat nachdrücklich gefordert, die Trennung von Schultypen aufzuheben, die auf intellektuelle Arbeit vorbereiten, und solcher, die auf körperliche Arbeit abzielen. Stattdessen sollte man alle Jugendlichen so ausbilden, dass sie in die Lage versetzt werden, potentiell politische Führung übernehmen zu können.

Ein Ministerium, das im Einklang mit dieser Forderung steht, müsste Ministerium für Bildungsgerechtigkeit heißen.

2: Budde, Jürgen; Kruger, Heinz-Hermann; Kramer, Rolf-Torsten & Rabe-Kleberg, Ursula (2011): Bildungsungleichheit revisited: Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule. Verlag für Sozialwissenschaften.
2: Erkurt, Melisa (2020): Generation Haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben. Zsolnay Verlag.
2: Grimaldi, Emiliano & Barzanò, Giovanna (2014): Making Sense of the Educational Present: problematising the ‘merit turn’ in the Italian eduscape. In: European Educational Research Journal 13(1), 26-46.
2: Sandel, Michael J (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Fischer.
2: Wellgraf, Stefan (2018): Schule der Gefühle. Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten. Transcript.
Nadja Thoma

Nadja Thoma

Nadja Thoma forscht an der Schnittstelle von Bildungs- und Sprachwissenschaft, setzt sich für eine differenzfreundliche Gesellschaft mit machtreflexiven Bildungsinstitutionen ein und kooperiert gern mit Schüler*innen, Pädagog*innen und pädagogischen Führungskräften. Daneben ist sie zu allen Jahreszeiten begeisterte Freiwasserschwimmerin.

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  • Politics

Citation

https://doi.org/10.57708/b143783606
Thoma, N. Warum wir kein Ministerium für Bildung und Leistung brauchen. Ein Plädoyer für eine Orientierung an Bildungsgerechtigkeit. https://doi.org/10.57708/B143783606

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