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Vegane Prosa: Was engagierte Erzählungen über die Fleischindustrie bewirken können

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Thomas Philipp StreifenederBarbara Piatti
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Vegane Prosa: Was engagierte Erzählungen über die Fleischindustrie bewirken können
Vegane Prosa: Was engagierte Erzählungen über die Fleischindustrie bewirken könnenCredit: CC BY 3.0 Hartmut Kiewert 2020 | All rights reserved

Der Corona-Skandal bei Tönnies und anderen Fleischkonzernen schlägt international hohe Wellen. Die Politik blieb zu lange untätig, und der Fleischkonsum ist immer noch immens, trotz zahlreicher Hinweise auf die verheerenden Folgen durch investigative journalistische Reportagen und NGOs. Auch Kunstschaffende und Schriftsteller machen schon seit Längerem auf die Missstände aufmerksam. Entstanden sind aufrüttelnde visuelle und literarische Werke. Können sie einen Wandel auch bei uns und unseren Konsumgewohnheiten bewirken? Können wir die Mensch-Tier-Koexistenz ganz neu denken? Wir sind überzeugt, dass vegane Malerei und Prosa transformative Macht besitzen – und wir zeigen, welche Künstler besonders beachtenswert sind.

Stündlich Millionen geschlachteter Tiere

Meldungen über “Fleisch ohne Tier” und im Labor gezüchtetes Fleisch, über Zulauf zum Veganismus und Diskussionen darüber, ob sich die wachsende Weltbevölkerung überhaupt mit Fleisch oder doch besser fleischlos ernähren soll, mehren sich. Hintergrund sind die katastrophalen sozialen und ökologischen Auswirkungen von Massentierhaltung und industrieller Fleischverarbeitung, vom missachteten Tierwohl ganz zu schweigen. Sie sind das Ergebnis einer global konkurrierenden und vernetzten Landwirtschaft der „economies of scale“ und „shareholder values“.

Jetzt sind sie durch den Tönnies-Skandal und ähnliche Nestbeschmutzer wieder in aller Munde. Dabei wird schon seit Jahren über die Zustände rund um Akkordschlachtungen, dubiose Subunternehmer und Lohndumping in der Fleischindustrie berichtet. Nitrate im Grundwasser, quer durchs Land fahrende Güllelaster, Antibiotikaresistenzen, Importe von Futtermitteln, deren Anbau auf den Gebieten indigener Bevölkerungen und ehemaliger Urwälder, Gesundheitsrisiken durch Fleischkonsum und dessen moralische Rechtfertigung: All das scheint an den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern, die eigentlich für das Wohl der Gesellschaft gewählt wurden, vorbei zu rauschen. Diese Nachrichten bleiben auf eigentümliche Weise wirkungslos. Allein die puren Zahlen sind, wie so viele andere unserer heutigen Zeit, kaum mehr fassbar. Wer wissen will, wie viele Tiere in Echtzeit weltweit geschlachtet werden, kann das mit dem “Vegan Calculator” selbst ausrechnen. Es ist dann nur noch konsequent, dass jährlich 2,5 Millionen Tonnen Schweinefleisch von Deutschland nach China exportiert werden, damit die chinesische Bevölkerung die von ihr als Delikatesse geschätzten Schweineohren verzehren kann. Exportfleisch aus Massentierhaltung „Made in Germany“. Das gilt übrigens auch für Südtirol: 7,1 Millionen Schweineschlegel (Hammen), unter anderem aus deutschen Schlachtereien, werden jährlich nach Südtirol eingeführt. Tönnies beliefert Mpreis-Supermärkte in Südtirol.

Warum reagieren  die politischen Entscheidungsträger nicht? Und die Konsumentinnen und Konsumenten: Warum steht bei vielen nach wie vor täglich dieses in Massen produzierte Fleisch auf dem Tisch (knapp 60 kg pro Kopf und Jahr)? Warum ist regionales Fleisch und Biofleisch auch in Südtirol die Ausnahme? Was kann gegen diese Ignoranz, Unwissen und Verdrängung noch helfen?

Die Macht starker Geschichten: die Kunst als Frühwarnsystem

Skandale und Katastrophen können aufgrund ihrer visuellen Kraft und zerstörerischen Macht radikale Veränderungen bewirken. Es ist gut möglich (und sehr zu hoffen), dass die Fleischindustrie nach den Corona-Ausbrüchen nicht mehr dieselbe sein wird. Kunst kann etwas in Bewegung setzen, kann Mahner und Frühwarnsystem sein, wie ein Seismograph für vorstellbare und unvorstellbare Tendenzen und Entwicklungen. Manchmal kommen (Bild-)Erzählungen der Realität zuvor. Bei Tönnies und Co. scheint das der Fall zu sein. Künstler haben vieles antizipiert, wovon jetzt gesprochen wird. Sie gehen und denken sogar weiter. Sie entwerfen künstlerische Dystopien und Utopien, erstaunliche Visionen rund um Fleischfabriken als krankes System. Zum Beispiel auf den animal utopia-Gemälden des Leipziger Malers Hartmut Kiewert. Tönnies ist in diesen Bildwelten schon seit 2012, Westfleisch und Wiesenhof 2017 zu in der Landschaft stehenden Ruinen geworden, in denen sich einstiges Schlachtvieh und Geflügel frei bewegt. Diese befremdlich-schönen Zukunfts-Szenen fordern unsere gewohnte Wahrnehmung heraus und liefern Stoff zum Nachdenken. Kiewert stellt seine Kunst immer wieder in den Dienst anderer Projekte, die ihm wichtig sind. So gestaltete er das Cover des gerade erschienen Tierrechtsromans „Feuerfieber“ der Schriftstellerin Hilal Sezgin und jenes des Dokumentarfilmes “The End of Meat/Eine Welt ohne Fleisch” (2017).

Hartmut Kiewert: „Berg“, 2012, Öl auf Leinwand | CC BY 3.0 Hartmut Kiewert 2020

Hartmut Kiewert: „Berg“, 2012, Öl auf Leinwand | CC BY 3.0 Hartmut Kiewert 2020

Hartmut Kiewert: „Ruine II“, 2017, Öl auf Leinwand | CC BY 3.0 Hartmut Kiewert 2020

Hartmut Kiewert: „Ruine II“, 2017, Öl auf Leinwand | CC BY 3.0 Hartmut Kiewert 2020

Hartmut Kiewert: „Ruine IV“, 2017, Öl auf Leinwand | CC BY 3.0 Hartmut Kiewert 2020

Hartmut Kiewert: „Ruine IV“, 2017, Öl auf Leinwand | CC BY 3.0 Hartmut Kiewert 2020

Eine Sprache für den Schlachthof finden

Aber auch literarische Texte können zu Anklageschriften werden, denn es gab und gibt sie immer öfter: Sehr lesenswerte Romane, die das besonders traurige und gleichzeitig schriftstellerisch höchst anspruchsvolle Thema Massentierhaltung engagiert ins Zentrum ihrer Darstellung rücken. Sie berichten realistisch von den Folgen der modernen Landwirtschaft und davon, was sich auf dem Land abspielt. Bereits in den 1980er Jahren hat Beat Sterchi mit „Blösch“ die Geschichte eines spanischen Gastarbeiters auf einen Schweizer Bauernhof erzählt. Er beginnt als Melker, schließt Freundschaft mit den Tieren und besonders mit der Leitkuh Blösch. Er sieht sie dann im Schlachthaus wieder. Das Buch hat damals bei Kennern und Kennerinnen Furore gemacht und Preise gewonnen. Doch den Sprung aufs internationale Parkett hat “Blösch” nicht geschafft. Die Zeit war wohl nicht reif für Erzählungen über seelenlose Schlachthöfe und Tierquälerei: “Wie immer, wie hundertmal am Tag, setzte er den Bolzenschussapparat an und pfaff! Sechs Arme ließen das Kalb fahren. Braten, Gulasch, Suppenknochen, an die 160 kg baumelten an einem Strick, schwangen, aufgehängt mit der Zunge am Boden, nach vorn und wieder zurück.” Jetzt scheint sie mit Macht und hoher Aktualität gekommen. Blösch ist 2018 unter dem Titel “Cow” erstmals ins Englische übersetzt worden.

©Head of Zeus (links)/Matthes & Seitz (rechts)

©Head of Zeus (links)/Matthes & Seitz (rechts)

Eine Schweinezucht als Ausdruck der Bestialität der heutigen Welt

Der junge französische Autor Jean-Baptiste Del Amo schreibt mindestens so drastisch wie Sterchi. Selten wird ein Leser so mitgerissen und mitfühlend wie bei der wilden Flucht des riesenhaften Zuchtebers „La Bête“, zu lesen auf den letzten Seiten seines mehrfach ausgezeichneten und erst kürzlich mit dem Republic of Consciousness prize prämierten Romans ´Tierreich`: „La Bête tauchte in jedem seiner Träume auf. Aus einem dunklen Versteck taucht er auf und springt los. In einem immer wiederkehrenden Albtraum stürzt Henri, von der Krankheit schließlich überwältigt, in einer der Buchten des Schweinstalls auf den Boden. Früher, als die Schweine ausgehungert, in den Dörfern umherstreunten, kam es vor, dass sie ein Kind verschlangen.”

Del Amo setzt all sein erzählerisches, sein ganzes sprachschöpferisches Können, sein Wissen ein, um ein grauenvolles, blutiges Panorama zu malen, in dessen Mittelpunkt eine Schweinezüchter-Dynastie und deren „Rohstoff“, die Tiere, stehen. Die existentielle Not der Menschen ist mindestens ebenso groß wie jene der Kreaturen in den Koben. Bestien sind die einen wie die anderen. Man kann, gleichermaßen angewidert wie fasziniert, gar nicht sagen, was sich mehr ins Gedächtnis einbrennt: Die präzisen Schilderungen des heruntergewirtschafteten, dreckstarrenden Hofes um 1900 zu Beginn der Geschichte oder die hochindustrialisierte Tierfabrik als apokalyptischer Endpunkt der Entwicklung. Schriftstellerisch auf höchstem Niveau, führt Del Amo Leserinnen und Leser an die Grenzen des Erträglichen.

Irritationen, Denkanstöße: Eine neue Generation engagierter Kunstschaffender

Es sind zwei Punkte, die dieses Buch neben der Sprache so lesenswert machen. Einer ist, dass Del Amo das triste Thema der auf Effizienz und Profitmaximierung ausgerichteten Massentierhaltung in einen höheren Gesamtkontext einbettet: “(…) die der Schweinezucht inmitten einer viel umfassenderen Unordnung, die sich seinem Verstand entzieht, etwas wie eine festgefressene Maschine, wahnsinnig, ihrem Wesen nach unkontrollierbar, etwas, das aus dem Ruder läuft und sie zermalmt, ihr Leben und ihre Grenzen übersteigt; der Schweinestall als Wiege ihrer Bestialität und der der Welt.”

Der zweite bemerkenswerte Punkt ist, dass sich bei Del Amo die eher seltene Einheit von schriftstellerischem Können und engagierter Lebensweise einstellt. Del Amo ist ebenso wie Hartmut Kiewert ein Beispiel für ein doppeltes Engagement. Als Literat bzw. Maler mit einer überzeugenden realistischen Darstellungsweise und als aktiver Tierschützer und Veganer. Del Amo ist Mitglied der französischen Vereinigung „L214“, einer gemeinnützigen Tierschutzorganisation, die Schlachthöfe anprangert und Bilder von Tiermissbrauch zeigt. Er bringt also eine eigene geprüfte empirische Perspektive ein, basierend auf einer fundierten persönlichen Recherche und dem Besuch schwer zugänglicher Schweinemastanlagen. Damit erreicht er Großes: Die eigene Erfahrung, die Recherche vor Ort, erlaubt es ihm, kenntnis- und detailreich-wissend zu schreiben, ohne in allzu simple Botschaften abzugleiten.

Del Amos Art zu schreiben kann ein wichtiges bewusstseins- und wahrnehmungsveränderndes Instrument sein. „Sollte der Roman ‚Tierreich‘ (2019) viele Leser finden, wäre es gut möglich, dass sich die Zahl der Fleischesser sprunghaft weiter vermindert“, bemerkt der Spiegel dazu.

Auch Hartmut Kiewert will mit seinen Bildern etwas verändern will  irritieren, utopische Gedankengänge anregen, wie er in einem Interview sagt: “Dadurch, dass so genannte Nutztiere sonst nicht in unserer Alltagswelt auftauchen, sondern in Mastbetrieben und Schlachthöfen weggesperrt sind, wirft sich die Frage auf, warum sie eigentlich heute gefangen gehalten und getötet werden. Warum spazieren sie eigentlich nicht zusammen mit uns auf den Straßen? (…). Meine Bilder bringen also durchaus schon eine mögliche Zukunft zum Vorschein, ohne diese zu definieren.”

Weitere Lektüreempfehlungen von Thomas Streifeneder und Barbara Piatti: www.rural-criticism.eu.
Rural Criticism ist ein gemeinsames interdisziplinäres Projekt.


Thomas Streifeneder Regional Development Agriculture Eurac research BlogsThomas Streifeneder ist Wirtschaftsgeograph und leitet das Eurac-Institut für Regionalentwicklung. Ihn beeindrucken engagierte Menschen im ländlichen Raum, Querdenker, die etwas wagen. Mit seinen Posts will er auf innovative soziale und ökologische Initiativen hinweisen und damit andere zum Umdenken inspirieren. Besonders interessiert ihn, wie die ländlichen Lebens- und Wirtschaftsweisen in der Prosa darstellt werden, wie genau sie diese wahrnimmt und welche Aussagen damit gemacht werden (siehe www.rural-criticism.eu).

Barbara PiattiBarbara Piatti ist promovierte Germanistin. Nach Stationen an der Stanford University, an der Karls-Universität in Prag, als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und als Forschungsgruppenleiterin an der ETH Zürich (“Ein literarischer Atlas Europas”) hat sie 2014 in Basel ihre eigene Firma gegründet. Über ihre Spezialgebiete Literaturgeographie und Kulturgeschichte der Schweiz hat sie mehrere Sachbücher geschrieben (www.barbara-piatti.ch).

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Citation

https://doi.org/10.57708/b6601048
Streifeneder, T. P., & Piatti, B. Vegane Prosa: Was engagierte Erzählungen über die Fleischindustrie bewirken können. https://doi.org/10.57708/B6601048

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