[DE] Geht doch! Demokratie in Vielfalt ist wieder da!
Mitten in der Pandemie, nach einer Weltfinanzkrise, mitten in einer Klimakrise, mitten in einer menschenfeindlichen Migrationspolitik, nach einem desaströsen Brexit, nach einem Afghanistandesaster strauchelt Deutschland sehenden Auges… in eine gestärkte parlamentarische Demokratie und folgt damit ausgerechnet… Italien. Ein Vorbild für Europa?
Eine neue Bundesregierung steht noch lange nicht fest und natürlich muss ganz Europa darauf hoffen, dass sich die Koalitionspartnerinnen bald einigen. Aber dennoch, der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy hat Recht: in Deutschland findet gerade eine „schöne Lehrstunde in Demokratie“ statt – in einem noch immer „hoch gefährdeten Europa“.
Nicht erst seit Berlusconi grassiert auf dem alten Kontinent ein aggressiver autoritärer Populismus. Diplomaten, Thinktanker, Kommentatoren, Beamte, viele, viele Entscheider und sogar Wissenschaftler fürchten längst das vermeintliche Ende der alten Parteiendemokratie und des westlichen Demokratiemodells. So sehr, dass sie schon fast kapituliert haben und sich ebenfalls in populistischen Heilsversprechen verlieren. Sie schauen auf das Volk herab und möchten es mit Fakten „abholen“ und erziehen. So flüchten sie sich ihrerseits in einen Populismus, wenn sie klassische Parteien, Vereinswesen, Parlamente herunter und neue Bürgerbewegungen herbeireden, lottokratische Bürgerräte (Jan-Werner Müller) erfinden oder wolkig von „Zivilgesellschaft“ faseln und dabei verschweigen, wen sie damit beschreiben und vor allem ausschließen.
Ich werde nie den Tag vergessen, als nach dem Erfolg von République En Marche und die Wahl von Emmanuel Macron eine Delegation von äußerst intelligenten Parisern und deutschen Macron-Fans bei mir im Büro saßen, um mir einzureden, dass mit der Zerstörung des ohnehin schwachen Parteiensystems in Frankreich nun Italien an der Reihe sei. Mehr noch: auch Deutschland sei fällig: Deshalb brauche die sich auflösende zerbröselnde deutsche Parteienlandschaft ein „En Marche Deutschland“. Die parlamentarische Demokratie sei nun (endlich) auch in Mitteleuropa am Ende. Ich werde auch nicht den Brexittag vergessen. Spätestens da wurde mir klar, dass die englische Demokratie längst ihre Vorbildfunktion verloren hatte. Plattes technokratisches „better regulation“ und purer imperialer Nationalismus entkernte eine einst stolz ausdifferenzierte Demokratie.
Und nun diese seltsame Bundestagswahl, bei der viele kleine Parteien wuchsen und nun alle einstigen Volksparteien geschrumpft wurden. Die Wahl hat zudem die extremen Ränder geschwächt. Die demokratiefeindliche Rechte ist zurechtgestutzt, nur europafreundliche Parteien dürften die nächste Bundesregierung bilden.
Nun beginnt die Stunde der deutschen parlamentarischen Demokratie: Konsensbildung mit Geduld und Respekt. Natürlich hat Italien eine andere Kultur, aber was sich derzeit erfolgreich zur Umsetzung von europäischen Reformvorgaben unter „Mr. Europe“ Mario Draghi zusammengefunden hat, wäre auch in Rom ohne Parlamentarismus nicht möglich gewesen. Gut, dass Berlosconis Traum einer Präsidialdiktatur mit bipolarismo-Zweiparteiensystem nie wahr wurde.
Es gibt in Europa überhaupt nur drei präsidentielle Demokratien, die nach dem tocquevilleschen Wort der „Diktatur der Mehrheit“ funktionieren: Russland, Türkei und Frankreich, letzteres noch immer auf freiheitlichem Niveau. Aber auch das eigentlich auf Parlamentarismus ausgerichtete Großbritannien simplifizierte seine Demokratie. Mit Hilfe des Mehrheitswahlrechtes „the winner takes it all“ wurde der Premierminister überstark.
Vereinfachung in der Politik hat gute Gründe. Vor allem war es der oft verständliche Verdruss über das alte korporatistische Westeuropa, das ohne Zweifel für Missmanagement oder gar Korruption und damit für Krisen mit verantwortlich war, nicht nur in Italien.
Aber die Antworten, die die Spindoktoren und die Eliten seit den 80ern mit populistischen Vereinfachungen gegeben haben waren in weiten Teilen überzogen. Rousseaus ideale Gesellschaft war nicht Athen sondern Sparta (Pankaj Mishra). Und es gibt viele Anhänger von Rousseau, auch im faschistischen und sozialistischen Extremen. Aber es herrscht ein Paradoxon: die Verachtung der Eliten wird ihnen selber befördert, indem sie sich selbst an die Spitze des Populismus stellen und zunehmend demokratischen Pluralismus verachten. Die Verachtung der eigenverantwortlichen demokratischen Vereinsmeier (wir alle) und der „Schwatzbude Parlament“ (Wilhelm II.) hat den selben Ursprung und wird von Eliten wie Populisten geteilt. In diesem Sinne hat Jan-Werner Müller recht, wenn er als die Feinde des Pluralismus nicht nur Populisten, sondern auch Technokraten benennt.
Und nun Deutschland. Die Sondierungsgespräche finden jetzt schon mit einem Höchstmaß an Sensibilität statt. Die Politiker der Parteien kommen aus unterschiedlichsten inhaltlichen Milieus, sind mit viel Sensibilität ausgestattet. Sie bezeichnen sich gegenseitig respektvoll als Demokraten. Sie haben das in den unterschiedlichsten Regierungen der 16 Länder und im Bundesrat geübt. Es ist kein Zufall. Es ist kein Zeitgeist. Es ist die DNA des deutschen Grundgesetzes. Es wird ein Ergebnis geben und es wird die Vielfalt der gesellschaftlichen Interessen in Kompromissen widerspiegeln. Und natürlich wird es endlich eine starke demokratische Opposition geben, die die autoritären Nationalisten marginalisiert.
Die liberale Demokratie ist nicht zum Untergang verurteilt. Frei nach Giovanni Sartori müssen wir der Einfachheit widerstehen und mehr Kompliziertheit und Pfadabhängigkeit wagen. Sartori hat aber auch Recht: unsere pluralistische Demokratie muss immer noch erklärbar sein. Aber warum sollten wir den Wettstreit der besten Ideen und den nachhaltig erfolgreichen Kompromiss als Ideal erklären? Uns darin verlieben lernen? Warum nennen wir uns nicht wieder stolz Demokraten, wenn wir in den Wettstreit um die besten Ergebnisse treten? Wenn die Menschen in Europa wieder den demokratischen Wettstreit lieben, dann werden sie immuner für die von wenigen geschürte Verachtung der Demokratie. Und die Europäer könnten sich von autoritären Regimen in der Welt stolz distanzieren. Rücken wir im Wettstreit also mehr zusammen. Mut!
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