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[DE] 50 Jahre Südtirol-Autonomie als Modell eines Vereinten Europa

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Marc RögglaRoland Benedikter
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[DE] 50 Jahre Südtirol-Autonomie als Modell eines Vereinten Europa
Karte Südtirols - © Center for Autonomy Experience/Florian Telser Center for Autonomy Experience/Florian Telser

Vor 50 Jahren wurden Südtirol mit dem zweiten Autonomiestatut eine Vielzahl von Kompetenzen übertragen. Eine Bilanz der Südtiroler Autonomie und ihrer internationalen Übertragbarkeit.

Am 20. Januar 1972 trat das heutige Südtiroler Autonomiestatut in Kraft. Es besiegelte die Südtiroler Autonomie als eine Art Territorialverfassung innerhalb der italienischen Nationalverfassung. Damit schuf es faktisch eine transnationale Brücke zwischen dem ehemaligen Mutterland Österreich und der Staatszugehörigkeit Südtirols zu Italien, indem die deutsch- und ladinischsprachigen Minderheiten per Grundgesetz in Kultur und Eigenheit geschützt werden. Der institutionalisierte Schutz ethnischer Minderheiten ermöglicht in Südtirol - in laut Staatsvertretern wie Helmut Kohl, Angela Merkel oder Jean-Claude Juncker für das Vereinte Europa beispielgebender Weise - das friedliche Zusammenleben dreier Sprachen, Kulturen und Ethnien: der italienischen, deutsch- und ladinischsprachigen Volksgruppen. Das wird als „Konkordanzdemokratie“ bezeichnet, die sich in das übergeordnete Modell der „Konsozialen Demokratie“ der Republik Italien einschreibt. Damit ist im Gegensatz zur deutschen Konkurrenzdemokratie eine Art „Toleranz und Kooperation per Gesetz“ gemeint.

Der „konservative Linksanalytiker“ und neoliberale Vordenker Francis Fukuyama meinte in einem am 3. Dezember 2021 auf Spiegel Online veröffentlichten Interview, dass in einem Land, das nach Prinzipien der Identitätspolitik organisiert sei, „es nur darum geht, die Beute aufzuteilen“ und es „eine schreckliche Art“ sei, eine Gesellschaft zu strukturieren. Neben der offensichtlichen Kritik an identitätspolitischen Gesellschaftsstrukturen kann man Fukuyamas Kritik an der sogenannten „Konkordanzdemokratie“ darauf zurückzuführen, dass diese manchmal zu Lähmung und zu schlechter Governance in den jeweiligen Ländern führt. Konkordanzdemokratien haben jedoch unterschiedliche Resultate gebracht und sind deshalb von Fall zu Fall zu beurteilen. Das gilt insbesondere für Friedensregelungen in ethnischen und Minderheiten-Konfliktgebieten.

In dem Interview bezog sich Fukuyama auf den Libanon. Eine ähnliche Kritik könnte Fukuyama aber auch zu Südtirols Autonomie und Minderheitenschutzregelungen äußern. Während Libanon durch religiöse Vielfalt besticht, ist Südtirol von sprachlicher und kultureller Vielfalt gekennzeichnet. In der Autonomen Provinz Bozen/Südtirol leben eine deutsche, italienische und ladinische Sprachgruppe friedlich zusammen, auch und vor allem dank konkordanzdemokratischer Regelungen, die in Südtirol als kontinuierlicher historischer Erfolg gewertet werden können.

Südtirol als Territorialautonomie mit seinem ethnischen Machtanteilnahme-Modell (power-sharing institutional model) gilt heute als eines der besten Beispiele erfolgreicher Konfliktlösung im europäischen und internationalen Kontext. Südtirol profitiert von einer starken Autonomie und ist mit primären und sekundären Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnissen ausgestattet. Gleichzeitig ist das Gebiet im Dreiländereck Italien-Österreich-Schweiz mit einem Pro-Kopf-BIP von 45.875 € inzwischen vor allem wegen der teilweisen Finanzautonomie eine der reichsten Regionen Europas. Die Autonomie hat Südtirol folglich Stabilität und Eigenständigkeit in der Entwicklung des Landes gebracht.

Südtirol als Territorialautonomie gilt heute als eines der besten Beispiele erfolgreicher Konfliktlösung im europäischen und internationalen Kontext.

Marc Röggla, Roland Benedikter

Im Gegensatz zum Libanon muss man erwähnen, dass Südtirol allerdings auch einige strukturelle Vorteile für die Umsetzung einer Konkordanzdemokratie mit sich bringt. Neben einem überschaubaren Territorium und kleiner Bevölkerung von 533.000 Einwohnern, einem repräsentativen, weil differenzierten Parteiensystem, einem stark verwurzelten Katholizismus und im Vergleich zu anderen Konflikthistorien wenig Gewalt, war auch der Wunsch der Eliten, weitere Konflikte zu vermeiden und die Verhandlung zu suchen, ein guter Nährboden für die Umsetzung der Autonomie und konkordanzdemokratischer Regelungen.

Doch auch Südtirol blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Schon vor dem ersten Weltkrieg lag Südtirol zwischen zwei aufkommenden nationalistischen Bewegungen. Der südliche Teil Tirols war bis 1919 Kerngebiet (Kronland) des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn und wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg gegen den Willen der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit von Italien annektiert. 1922, nach der Machtübernahme durch die Faschisten, wurde Südtirol "italienisiert" und die deutsche Sprache in öffentlichem Raum und Schulunterricht verboten. 1939 wurden die Südtiroler*innen vor die „Option“ gestellt: sie hatten die Wahl, in ihrer Heimat zu bleiben und ihre Kultur und Sprache aufzugeben, oder ins Deutsche Reich auszuwandern. Nach einer heftigen Propagandaschlacht entschieden sich rund 86 Prozent der Südtiroler für die Ausreise. Etwa 75.000 Menschen wanderten in der Folge tatsächlich aus, bevor das Ende des Krieges dem Exodus ein Ende machte.

Das zweite Autonomiestatut von 1972 ist die Grundlage für das Zusammenleben der drei Südtiroler Sprachgruppen. © Center for Autonomy Experience | Florian Telser

Nach dem zweiten Weltkrieg blieb Südtirol Teil Italiens, wieder gegen den Willen der Mehrheitsbevölkerung, die die Rückgliederung an Österreich wollte. Den Südtirolerinnen und Südtiroler wurden als Kompromiss im Rahmen der Pariser Friedensverträge durch das sogenannte „Gruber-De Gasperi-Abkommen“ vom September 1946 autonome Befugnisse zum Schutz der deutschen und ladinischen Minderheit zuerkannt. Nach einer unbefriedigenden Umsetzung durch das Erste Südtiroler Autonomiestatut von 1948 kam es zu Gewalt, Bombenanschlägen und Demonstrationen. Österreich brachte die „Südtirolfrage“ vor die Vereinten Nationen. Aufgrund des internationalen Drucks und langjährigen Verhandlungen übertrug 1972 das Zweite Autonomiestatut, das ein italienisches Verfassungsgesetz ist, die meisten Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnisse von der Region Trentino-Alto Adige/Südtirol - wie im Ersten Autonomiestatut vorgesehen - auf die Autonome Provinz Bozen. Die Folge waren ein ausgeprägter Minderheitenschutz und wesentliche Verbesserungen in Bezug auf die politische, finanzielle, kulturelle und wirtschaftliche Selbstverwaltung.

Seit 1972 wurde Südtirols Autonomie vor allem durch paritätische Kommissionen in Verhandlungen mit dem Staat umgesetzt. In diesen Kommissionen sitzen gemeinsam Vertreter*innen der Provinz und des Staates sowie der Sprachgruppen und diskutieren auf Augenhöhe. Die Kommission erlässt sogenannte Durchführungsbestimmungen, das heißt atypische Rechtsquellen, die nicht durch ein einfaches Staatgesetz abgeändert werden können und nicht den Weg durch das italienische Parlament gehen müssen. Sie waren und sind Garant für die erfolgreiche Umsetzung der Autonomie. Die „gemischten“ Kommissionen haben sich als Instrument zur Vertrauensbildung zwischen den Sprachgruppen und zwischen Land und Nationalstaat bewährt.

Jeder Bürger kann unabhängig von seiner Sprachzugehörigkeit die Schule selbst auswählen, also eine ethnisch frei gewählte Schule besuchen

Marc Röggla, Roland Benedikter

In Südtirol sind heute Deutsch und Italienisch offizielle Amtssprachen. In den ladinischen Tälern ist auch Ladinisch den beiden Sprachen gleichgestellt. Die öffentliche Verwaltung ist zweisprachig bzw. dreisprachig und alle wichtigen Dokumente und Akte müssen in beiden bzw. allen drei Sprachen verfasst werden. Das Schulsystem in Südtirol ist ausdifferenziert: es gibt eine deutsche, italienische und ladinische Schule. In der deutschen bzw. italienischen Schule wird die jeweils andere Sprache als Zweitsprache unterrichtet. In der ladinischen Schule werden alle drei Sprachen unterrichtet. Jeder Bürger kann aber unabhängig von seiner Eigenerklärung und Zugehörigkeit die Schule selbst auswählen, das heißt eine ethnisch frei gewählte Schule besuchen.

Südtirols Autonomieregelung ist darauf ausgerichtet, das Kräfteverhältnis zwischen den Sprachgruppen durch sprachliche Gleichstellungsmaßnahmen, Proporzregelungen in der öffentlichen Verwaltung, Politik und Finanzen zu regeln. Dies garantiert, dass die Sprachgruppen entsprechend ihrer Stärke auf politischer Ebene, aber auch in der öffentlichen Verwaltung vertreten sind, was für ein friedliches Zusammenleben entscheidend ist. Dem dient auch eine periodisch erfolgende Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung.

Südtirol verfügt zudem über eine partielle Finanzautonomie. Südtirol muss ca. 10% des Steueraufkommens, das in Südtirol erhoben wird, inklusive eines variablen Solidaritätsbeitrages zur Staatsverschuldung, an Italien abtreten, die übrigen 90% bleiben im Land abzüglich des Solidaritätsbeitrags.

Ausblick? Fukuyama hat, stellvertretend auch für andere Kritiker unserer Zeit, nicht unrecht, wenn er meint, eine Gesellschaftsstruktur nach Prinzipien der Identitätspolitik sei problematisch. Auch Südtirol erkennt man noch nach 50 Jahren ähnliche Bruchstellen. Als die Autonomie 1946 und dann verbessert 1972 eingeführt wurde, waren strenge Regelungen zur Befriedung des Konflikts notwendig. Das Zusammenleben in Südtirol ist heute ein Wechselspiel aus Machtteilung, Miteinander und Differenzierung. Das hat seine Vor- und Nachteile.

Nichtsdestotrotz hat die Autonomie dazu beigetragen, den Konflikt in Südtirol erfolgreich zu befrieden. Die Südtiroler Autonome ist ein Friedensmodell auf der regional-territorialen Ebene – ganz ähnlich wie die Europäische Union auf der übergeordneten Ebene. Der Fall Südtirol zeigt, dass Fukuyamas US-zentrische Kritik an konkordanzdemokratischen Regelungen in Bezug auf Europa nur teilweise zutreffen. Südtirols politische Verhältnisse sind heute stabil und die Verwaltung des Landes hat der Provinz Reichtum gebracht. Das Verhältnis der drei Sprachgruppen wurde erfolgreich befriedet, und Südtirol profitiert von seiner Rolle als Brücke zwischen dem deutschen und italienischen Sprachraum. Auch die von der Autonomie geförderte ökonomische Entwicklung Südtirols hat zur Befriedung des Konflikts beigetragen und zu einer starken Akzeptanz des Autonomiemodells bei allen Sprachgruppen geführt.

*Hinweis: Dieser Beitrag erschien zuerst in WeltTrends 184 | 2022.

Marc Röggla

Marc Röggla

Marc Röggla ist Leiter des Centers for Autonomy Experience von Eurac Research. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck und forschte von 2013 bis 2020 als Wissenschaftler am Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research.

Roland Benedikter

Roland Benedikter

Roland Benedikter, geboren 1965 in Bruneck, ist Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen, Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse in residence am Willy Brandt Zentrum der Universität Breslau-Wroclaw, Mitglied des Zukunftskreises des Deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und ordentliches Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

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  • Autonomie

Citation

https://doi.org/10.57708/b118967408
Röggla, M. E., & Benedikter, R. 50 Jahre Südtirol-Autonomie als Modell eines Vereinten Europa. https://doi.org/10.57708/B118967408

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