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Baukultur oder Architektur – Was geht vor?

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Baukultur oder Architektur – Was geht vor?
Baukultur oder Architektur – Was geht vor? - © Manuel Demetz

Derzeit findet in Südtirol eine wahre Flut an Veranstaltungen zu Fragen von Architektur im regionalen Kontext statt. Ohne Zweifel kann eine solche Diskussion die Zukunftsfähigkeit einer Region stärken, weil Architektur im Spannungsfeld von Funktion und Ästhetik unterschiedliche Fragestellungen der Raum-, Regional-, Standort- und Destinationsentwicklung tangiert. Eine durchaus intensive Diskussion findet dabei im Zusammenhang mit „Architektur und Tourismus“ statt, wobei gerade dort auffällt, dass der Tourismus sich nicht selten am Pranger wiederfindet, weil insbesondere durch die Vielzahl der Hotelbauten in einem Land mit einer so hohen Tourismusintensität wie in Südtirol vielfach Bauten darunter sind, die Anlass geben zu Kritik bzw. zur Diskussion über Form, Funktion und Ästhetik des Hotelbaus (siehe auch Blogbeitrag vom Aug 2014).

Darüber hinaus fand erst kürzlich, nach der von Mai bis September 2014 präsentierten Ausstellung „Alpen Architektur Tourismus“, von Mitte November 2014 bis Mitte Januar 2015 im Kunst Meran eine Ausstellung zum Thema „Wein und Architektur“ statt, was die Vitalität der Diskussion rund um die Bedeutung von Architektur im Zusammenhang mit zentralen, regionalen Themenstellungen wiederum verdeutlicht. Ohne Zweifel gibt es in Südtirol eine Reihe von „weinaffinen“ Bauwerken, welche letzthin für Furore gesorgt haben und auch von der in- und ausländischen Presse in bedeutendem Maße als hervorragende Leistungen Südtirols beschrieben werden. Es ist richtig, jene Themenstellungen zum Gegenstand der Architekturdebatte zu machen, die für Südtirol eine wirtschaftliche, aber nicht zuletzt gesellschaftliche und damit sozioökonomische Bedeutung haben.

Wenn bspw. eine Kellereigenossenschaft ein für die Architekturdebatte interessantes und wohl auch wegweisendes Projekt umsetzt, garantiert dies nicht nur eine entsprechende Sichtbarkeit, sondern fordert und fördert Diskussionen zu Fragen der Identität sowie des Selbstbewusstseins auf lokaler und regionaler Ebene. Diese „Leuchttürme“ können vielleicht auch dabei helfen, interne Auseinandersetzungen in eine gemeinsame Identität einzubetten und damit Energien stärker in eine einheitliche Richtung der Innovation, der Zusammenarbeit und der Qualität zu kanalisieren.

So wichtig diese Diskussionen auch sind, stehen dabei häufig die Leuchttürme architektonischer Ausdruckskraft (zu sehr) im Mittelpunkt der Diskussion. Es kann gut sein, dass dadurch Fragestellungen zur Bedeutung regionaler Baukultur in den Hintergrund gedrängt werden. Architektur ist lediglich ein Teil der Baukultur, denn sie steht für das Einzelne und die damit zusammenhängende Kreativität, während die Baukultur für das Raum-, Stadt- und Ortsbild steht und sich auf das Zusammenspiel von Bauwerk und Ort, von Siedlung und Landschaft bezieht. Bisweilen ist Architektur auch das genaue Gegenstück zur Baukultur. Architektur hat einen immanenten Trieb zur (Selbst-) Darstellung und Besonderheit, möglicherweise auch zur Exzellenz, während die Baukultur das Ergebnis des Ganzen ist, wozu nicht zuletzt das „Mittelmaß“ gehört, das durchaus prägenden Charakter hat.

Auf den ersten Blick leiten sich davon eher bescheidene Ziele ab, beim genaueren Hinsehen ist aber die Planung und Realisierung eines guten und machbaren Mittelmaßes eine kaum geringere Herausforderung – und damit auch für Architekten spannend. Gekonntes Zurücknehmen und Integrieren des Einzelnen und Besonderen in das Ganze kann sehr wohl eine Leistung sein. Die Themenstellungen „Wein und Architektur“ sind dann Ausdruck regionaler Identität, wenn sich in ihnen die zwei regionalen Kulturebenen „Weinkultur und Baukultur“ wiederfinden. Dasselbe gilt für Tourismus, Landwirtschaft und Architektur. Bei „Urlaub auf dem Bauernhof“ treffen beispielsweise die Kultur der Bewirtschaftung des Landes, die lange Tradition im Umgang mit Holz im Bau (Holzhandwerk) und die Kultur der Gastfreundschaft aufeinander. Einen großen Teil unserer Lebenszeit verbringen wir in umbauten und bebauten Räumen. Wie diese Bebauung aussieht, verrät viel über die Art und Weise wie Menschen zusammenleben und aufeinandertreffen, wie sie miteinander kommunizieren und sich austauschen. Lebensstile und gesellschaftliches Zusammenleben spiegeln sich in der Gestaltung eines Gebäudes wider und hier sind wir beim Thema Architektur, sie enden aber in Bildern von Städten und Orten.

Demnach kann Baukultur sehr viel darüber aussagen, wie das Zusammenleben in einer Region funktioniert, genauso wie Beherbergungsarchitektur sehr viel darüber aussagen kann, wie Tourismus und Gastfreundschaft in dem Haus funktionieren. Man denke hier an die unterschiedlichen Beherbergungsräumlichkeiten des Bauernhauses, der Pension der 70er Jahre und der Hotelbauten der letzten Jahrzehnte. Das eine ist die Raumkultur, das andere ist der Kulturraum. Baukultur fügt sich zweifelsohne in letzteres, dem weitaus Größeren, ein.

Baukultur steht für Identität und Regionalität, weil sich zum Teil über Jahrhunderte Bautraditionen weiterentwickelt haben, deren Grundverständnis für die Regionalentwicklung so bedeutend ist. Baukultur ist jene bauliche Ästhetik, die eine Landschaft formt und sie zu etwas Typischem macht. Gerade durch diese landschaftsprägende Funktion erfährt Baukultur ihre Wichtigkeit. Die Leuchttürme – egal ob gewerbliche Zweckbauten oder private Bauten – stehen häufig als Leuchttürme in der Landschaft und können diese über einen langen Zeitraum auch prägen, insbesondere durch die Vorbildfunktion und die Möglichkeit zur Imitation. Wenn sich über Jahre neue Formen des Bauens (z. B. im Hang) etablieren oder traditionelle Bauten eine behutsame Weiterentwicklung erfahren, dann ist das jene Baukultur, deren Entwicklung beinahe unsichtbar Regionen verändern kann und die Identitäten neu justiert. Und hierfür bedarf es der Architektur, samt internationaler Einflusssphären der zeitgenössischen und durchaus eigensinniger Architektur, die einen Mehrwert für die Weiterentwicklung der regionalen Baukultur leisten kann. Mögen wir aber bei all der wichtigen Diskussion um Architektur nicht vergessen, dass ihre Grundlage die Baukultur ist, gewissermaßen jener Rahmen, innerhalb welchem die architektonischen Leuchttürme Sinn machen und zugleich die Baukultur weiter entwickeln können. Fehlendes Gespür und mangelnde Sensibilität für den Diskurs über Baukultur kann dazu führen, dass aus dem Kontext gerissene Architektur entsteht, die dann wenig harmonisch die Landschaft prägt. Auch wenn für den Einzelnen Architektur als Mittel der Differenzierung, Profilierung und Wettbewerbspositionierung Sinn machen kann, für Regionen, Standorte und Destinationen mit Attraktivität und Lebensqualität funktioniert dies vor allem über Baukultur, eben über das Zusammenspiel. Nach diesem Verständnis heißt Baukultur auch gesellschaftlicher Konsens im Bauen, wobei es auch um Verantwortung geht. Verantwortung heißt, dass neue architektonische Potentiale genutzt und im Sinne des Zeitenwandels Traditionen auch weiterentwickelt werden, dass es aber nicht unbedingt falsch ist, wenn innovative Bauprojekte, die ohne Bezug zum landschaftlichen Kontext stehen, abgelehnt werden.

Wie bei Architektur so geht es auch bei Baukultur nicht um die Diskussion von guter oder schlechter Baukultur, aber es gibt objektive Kriterien, sowohl beim einen als auch beim anderen: Gute Baukultur ist auf den Ort bezogenes Bauen, aus dem Ort selbst heraus entstandenes Bauen, sie ist nicht alt und nicht neu, sondern hat Bestand und wird weiterentwickelt, hat aber immer Tradition. Bei allen Konfliktpotentialen und Spielräumen für Interpretationen, die hier sicherlich gegeben sind, gilt es, sich dennoch der Auseinandersetzung und dem Diskurs zu stellen. Baukultur braucht Zeit, Zeit für die Auseinandersetzung mit Visionen. Bauen ist immer fremd für die Landschaft, langlebige Baukultur aber kann die bestmögliche Harmonie zwischen Bau und Landschaft sein.

Autor: Harald Pechlaner, Elisa Innerhofer, Michael Volgger

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https://doi.org/10.57708/b22008504
Pechlaner, H. Baukultur oder Architektur – Was geht vor? https://doi.org/10.57708/B22008504

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