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Die Flucht der "Anderen"

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Die Flucht der "Anderen"
Seit der russischen Invasion der Ukraine fliehen nun auch viele Rom*nja in die Nachbarländer, insbesondere nach Moldawien und in die angrenzenden EU-Staaten Tschechien, Ungarn oder Polen. - © Bückert / Unsplash

Seit der russischen Invasion im Februar 2022 sind zahlreiche ukrainische Rom*nja auf der Flucht. Angehörigen der Minderheit wird die Ausreise aus der Ukraine aber oft erschwert. Für diejenigen, die es trotzdem schaffen in den vermeintlich sicheren Westen zu fliehen, geht die Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit aber weiter. Dabei sind fehlende Ausweispapiere ein ebenso großes Hindernis wie ungarisch-ukrainische Doppelstaatsbürgerschaften.

Auf der Flucht

Zu den sechs Millionen Menschen, die seit Beginn der russischen Invasion aus der Ukraine geflohen sind, gehören schätzungsweise 100.000 Rom*nja. Bereits im Zuge der Krim-Annexion durch Russland im März 2014 hat sich die ohnehin schon prekäre Lage der Minderheiten in der Ukraine, und somit auch der Rom*nja, um ein Vielfaches verschlechtert. Laut Schätzungen aus den Jahren 2014 und 2015 haben mehr als 10.000 Rom*nja als Folge der Annexion ihren Heimatort verlassen und sind ihn andere Teile der Ukraine geflüchtet. Rom*nja sind dabei die am meisten gefährdete Gruppe der Binnenflüchtlinge, denn etwa 40 Prozent besitzen keine Ausweisdokumente und sind daher nicht einmal als legale Bürger*innen der Ukraine anerkannt. Seit Februar 2022 fliehen nun auch viele Rom*nja in die Nachbarländer, insbesondere nach Moldawien und in die EU-Staaten Tschechien, Ungarn, Slowakei oder Polen.

Unter dem Brennglas

Der aktuelle Krieg legt ein Brennglas auf lang andauernde Probleme, unterstreicht Viola Popova, Projektassistentin für den Europäischen Rat in der Ukraine, und ehemalige Mitarbeiterin des "Roma Women Fund" sowie der "Roma Frauen Organisation Chirikli" der Ukraine. Denn für Angehörige der Roma Minderheiten ist das Überqueren von Grenzen eine Herkulesaufgabe, da sie oftmals ihre Staatsbürgerschaft nicht nachweisen können: Der Grund dafür sind fehlende Papiere, die oftmals auf fehlende Geburtsurkunden zurückzuführen sind. Die Problematik der fehlenden Pässe ist jedoch kein Novum und wird schon lange von Aktivisten und Aktivistinnen wie auch nationalen sowie internationalen Organisation thematisiert. Insbesondere auf der Flucht werden fehlende Ausweispapiere zum existentiellen Problem: Wer sich nicht ausweisen kann, kann auch keinen Asylantrag stellen, die Anerkennung und der Schutz als Flüchtling bleiben somit aus.

In Berichten von NGOs und anderen Organisation heißt es, dass viele Rom*nja-Familien ohne Papiere mit leeren Händen und ohne finanzielle Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts an der Grenze abgewiesen wurden und nicht aus der Ukraine ausreisen konnten. „Die Last liegt dabei auf den Schultern der Frauen“, sagt Viola Popkova. Während die Männer aufgrund des Kriegsrechts in der Ukraine bleiben, müssen Frauen sich auf der Flucht um die Kinder und Alten kümmern. Sie sind dabei neben dem Antiziganismus - der Begriff steht für den spezifischen Rassismus gegen Rom*nja - auch sexueller Gewalt und einer Vielzahl anderer Gefahren ausgesetzt.

Die ungarisch-ukrainischen Doppelstaatsbürgerschaften

Doch auch jene, die einen Pass besitzen, erwartet keine einfache Reise. Der Grund dafür ist die ukrainisch-ungarische Doppelstaatsbürgerschaft, wegen der viele aus der Ukraine fliehende Rom*nja in Ungarn sowie in anderen EU-Ländern nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Doch warum besitzen viele in der Ukraine lebende Roma auch die ungarische Staatsbürgerschaft? Dies geht zurück auf die Politik Viktor Orbáns, auf Grund derer seit 2010 einer große Anzahl der ungarisch-sprachigen Bürger*innen der ungarischen Nachbarländer, wie auch der Ukraine, die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Die ungarische Regierung hat in den letzten Jahren über eine Million Staatsbürgerschaften an Menschen in der Ukraine, Rumänien, Serbien verliehen, die entweder heute in Gebieten wohnen, die einst zu Ungarn gehörten, oder deren Vorfahren die ungarische Staatsbürgerschaft hatten. Dadurch sind neben ethnischen Ungaren und Ungarinnen oder Ukrainern und Ukrainerinnen aus der Region Transkarpatien auch viele Roma zu Doppelstaatsbürger*innen geworden. Viele ukrainische Rom*nja-Flüchtlinge mit der ungarischen Staatsbürgerschaft reisen zwischen den Visegrád-Hauptstädten hin und her, da die Regierungen sich weigern, ihnen die gleiche Hilfe zukommen zu lassen wie den Ukrainern und Ukrainerinnen mit nur einem Pass. Insbesondere Tschechien erlebt einen Zustrom von Rom*nja mit ungarisch-ukrainischer Doppelstaatsbürgerschaft. Laut den tschechischen Behörden haben diese aber weder Anspruch auf finanzielle Unterstützung noch auf Schutz – da sie auf dem Papier EU-Bürger*innen sind. Vor dem Krieg ermöglichte der ungarische Pass Reisefreiheit und Arbeitsmöglichkeiten innerhalb der EU, die für viele Rom*nja einen Hoffnungsschimmer waren. Das Blatt hat sich nun gewendet und der Pass, der vor dem Krieg Freiheit bedeutete, wird vielen zum Verhängnis, wie das Beispiel aus Tschechien verdeutlicht.

Ungewollte Gäste

Gleich zu Beginn der Invasion war Moldawien ein Ziel für Asylbewerber*innen ohne Papiere. Diejenigen, die Dokumente und die finanziellen Mittel hatten, konnten direkt in EU-Länder gehen, andere durchquerten moldauisches Territorium als Transitzone nach Rumänien und andere EU-Länder. In das kleine Land mit nur rund 2,6 Millionen Bürger*innen sind seit Beginn des Krieges in der Ukraine fast 400.000 Menschen geflüchtet. Aus Moldawien berichtet Human Rights Watch über eine Praxis, Rom*nja-Flüchtlinge aus der Ukraine von anderen Flüchtlingen zu trennen und ihnen die Unterbringung in staatlichen Zentren zu verweigern. Viele Rom*nja finden sich dadurch in Moldawien in unzumutbaren Wohnverhältnissen und ohne ausreichenden Schutz wieder. Viele Roma-Familien sind zudem mit der möglichen Trennung ihrer Familien konfrontiert, da einigen Familienmitgliedern die für die Einreise in die EU erforderlichen Dokumente fehlen. Das bedeutet, dass ihnen nur zwei Möglichkeiten bleiben: in Moldawien unter prekären Lebensbedingungen zu bleiben oder in die Unsicherheit einer vom Krieg zerrütteten Ukraine zurückzukehren.

(K)eine Chance für die Zukunft?

Trotz des andauernden Krieges, entscheiden sich daher viele Rom*nja Flüchtlinge in die Ukraine zurückzukehren. Die Diskriminierung auf der Flucht und die Hürde aufgrund fehlender Papier oder der ungarischen Staatsbürgerschaft sind Gründe für die Rückkehr. Um dieser strukturellen Diskriminierung entgegenzutreten, braucht es Strategien und die Sichtbarmachung des Antiziganismus. Dabei ist es zentral, Rom*nja in der Ausarbeitung und Sichtbarmachung maßgeblich miteinzubeziehen und gemeinsam Strategien zu erarbeiten. Nur dadurch kann die Zukunft für Rom*nja in der Ukraine, und darüber hinaus, gerechter werden.

Rom*nja ist der (gegenderte) Überbegriff aller Romani-Untergruppen, die Teil der Roma Minderheit sind.

Sophia Schönthaler

Sophia Schönthaler

Sophia Schönthaler ist Junior Researcherin am Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research und Doktorandin an der Universität Graz. Ihre Forschungsinteressen liegen an den Schnittstellen zwischen Gender und Ethnizität, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der politischen Partizipation von Romani Frauen.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b140850317
Schönthaler, S. Die Flucht der "Anderen" . https://doi.org/10.57708/B140850317

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