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Umfahrungsstraße gebaut – Zentrum tot?

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Umfahrungsstraße gebaut – Zentrum tot?
Umfahrungsstraße gebaut – Zentrum tot? -

Die Entscheidung zu einem Bau einer Umfahrungsstraße kann zu einschneidenden Veränderungen in einem Dorf führen, wie zum Beispiel im Mobilitätsverhalten im und rund um das Dorf, das soziale Miteinander, die Attraktivität des Standortes, das Einkaufsverhalten usw.

Man denke zum Beispiel an den Bau der MeBo, zwar eine Verbindungsstraße zwischen Meran und Bozen, welche aber für die einzelnen Dörfer im Etschtal durchaus mit einer Umfahrung des eigenen Dorfes gleichgestellt werden kann. Seit 1997 verbindet sie Bozen und Meran miteinander. Zu Beginn scharf kritisiert und umstritten, kann sich heute kaum jemand das Etschtal ohne die Verbindungsstraße zwischen den beiden Ballungszentren vorstellen. Heute verkehren pro Tag durchschnittlich 29 bis 38 Tausend Fahrzeuge. Dabei ist eines gewiss: sie hat maßgeblich zur Verbesserung der Lebensqualität der Einwohner im Etschtal beigetragen, auch wenn sie aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht einschneidende Veränderungen mit sich brachte.

Ein Ort in Südtirol, der kurz vor dem Baubeginn einer Umfahrungsstraße steht, ist die Gemeinde Kastelbell-Tschars im Vinschgau. Vor wenigen Monaten wurde dort ein weiterer konkreter Schritt hin zum Bau der neuen Umfahrungsstraße in die Wege geleitet: es fanden die ersten Informationstreffen mit den Grundeigentümern, sowie diverse Lokalaugenscheine mit involvierten Akteuren innerhalb wie auch von außerhalb der Gemeinde statt. Laut aktuellem Terminplan wird im Herbst 2017 die Ausschreibung zum Bau der Umfahrungsstraße Kastelbell-Galsaun veröffentlicht werden, während der Baubeginn mit Herbst 2018 vorgesehen ist. Im Gemeindeblatt der Gemeinde Kastelbell-Tschars „Einblicke“ schreibt der Bürgermeister Gustav Tappeiner: „Für unsere Gemeinde ist die Zukunft nach der Umfahrung eine Herausforderung. Nur gemeinsam können wir sie mit guten Lösungsansätzen gestalten.“

Ein dahingehender Prozess wurde vor ca. zwei Jahren begonnen, als das Institut für Regionalentwicklung mit einem Ortsentwicklungskonzept beauftragt wurde, welches zu einer aktiven und nachhaltigen Gestaltung des Lebens-, Wirtschafts- und Erholungsraumes Kastelbell-Tschars mit Hinblick auf das Jahr 2025 beitragen soll. Ergebnisse der Studie zeigten, dass der Bau einer Umfahrungsstraße auch mit Bedenken verbunden ist, die das Aussterben des Ortes durch den Einbruch des lokalen Handels und des Tourismus, sowie den Verlust der Identität betreffen. Es hat Aussagen gegeben wie „Wenn die Umfahrungsstraße gebaut wird, wird das Zentrum kurz- bis mittelfristig tot sein“, welche von weiteren kritischen Stimmen in- und außerhalb des Dorfes begleitet wurden. Weiters gab es auch sehr optimistische Darstellungen, wie „Die Umfahrungsstraße ist sofort notwendig“ und „Die Gemeinde gewinnt mit der Umfahrungsstraße an Lebensqualität“. Im Rahmen des Projektes galt es konkrete Maßnahmen zu setzen, die auch die Umfahrungsstraße betreffen, insofern sie den Lebens- und Wirtschaftsraum Kastelbell-Tschars beeinflusst.

Die Umfahrungsstraße war zwar ein wichtiger Anhaltspunkt im Projekt, konnte jedoch nicht von anderen Diskussionen abgesondert betrachtet werden. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Bau einer Umfahrungsstraße die Möglichkeit bietet, die bisherigen Entwicklungen in der Gemeinde zu überdenken, zu diskutieren und gemeinsam weiterzuentwickeln. Dabei geht es um die verschiedenen Wirtschaftsbereiche, wie den (Einzel)Handel, genauso wie das landwirtschaftliche und produzierende Gewerbe sowie den Dienstleistungssektor: Herrscht ein Gleichgewicht in der Ausprägung der unterschiedlichen Wirtschaftsbereiche? Gibt es eine Zusammenarbeit zwischen den Branchen? Wie sieht die Erreichbarkeit in- und von außerhalb der Gemeinde aus? Vor allem aber muss die soziale Perspektive miteinbezogen werden: Fühlen sich die Bewohner, mit besonderem Augenmerk auf Jugendliche und (junge) Familien, in der Gemeinde wohl? Werden den Bedürfnissen der zunehmend älteren Generationen Rechnung getragen? Gibt es Möglichkeiten der sinnvollen Freizeitgestaltung? Wie sieht das kulturelle Angebot in der Gemeinde aus?

Diese und weitere Fragen wurden im Rahmen von Workshops diskutiert und versucht, gemeinsam Lösungsansätze für aktuelle Herausforderungen zu finden. Hier hat sich herausgestellt, dass dieser Prozess des Austausches in der Bevölkerung zahlreiche Chancen für die Weiterentwicklung der Dorfgemeinschaft bietet, auch im Hinblick auf den Bau der Umfahrungsstraße. Eine zentrale Bedeutung haben hierbei die lokalen Vereine, die eine wichtige Rolle beim Zusammenhalt in der Dorfbevölkerung spielen. Sie bieten eine Plattform für regelmäßige Treffen und damit den Austausch unter den Dorfbewohnern. Dies erscheint in der Gemeinde Kastelbell-Tschars als besonders wichtig, da die Gemeinde aus insgesamt neun verschiedenen Fraktionen besteht, wobei die beiden „Hauptdörfer“ Kastelbell und Tschars auch für sich schon zwei starke Identitäten darstellen. Des Weiteren gelten die Vereine als identitätsstiftend, die Mitglieder teilen gemeinsame Interessen und tragen durch die gelebten Bräuche/Traditionen zum kulturellen Leben in der Gemeinde bei.

Die Gemeinde Auer hat im Jahr 2013 die Umfahrungsstraße eröffnet, während des Baus wurde sie für 3 Jahre von einer Projektgruppe des Instituts für Regionalentwicklung von Eurac Research begleitet. Auch in diesem Fall wurde der Veränderungsprozess durch den Bau der Umfahrung nicht abgekoppelt von anderen Entwicklungen in der Gemeinde gesehen. Das Projekt hat gezeigt, dass eine gemeinsame Dorfentwicklung, welche von vielen verschiedenen Entscheidungsträgern in einer Dorfgemeinschaft bestimmt und begleitet wird, eine erfolgreiche sein kann. Zentrales Fazit, welches auch auf das Projekt in Kastelbell-Tschars übertragen werden kann, ist, dass je höher die Information über zukünftige Umwandlungen und die Beteiligung der lokalen Akteure am Entscheidungsprozess über die Dorfentwicklung ist, desto einfacher ist es für die öffentliche Verwaltung, das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Anforderungen zu finden.

Die proaktive Gestaltung des Raumes als Lebensraum für den Einwohner, als Wirtschaftsraum für den Unternehmer, aber auch als Erholungsraum für den Gast, ist eine zentrale Aufgabe bei der Weiterentwicklung eines Ortes. Wenn das Zusammenspiel zwischen den drei Räumen (Lebens-, Wirtschafts- und Erholungsraum) gegeben ist, Maßnahmen in diesem Rahmen gesetzt werden und proaktiv gestaltet werden, kann eine Gemeinde gestärkt in die Zukunft blicken. Somit kann die anfängliche Aussage: „Wenn die Umfahrungsstraße gebaut wird, wird das Zentrum kurz- bis mittelfristig tot sein“ umgewandelt werden und als ein „aufgewerteter Lebensraum für Einheimische, Unternehmer und Gäste“ gelten.

Einige zusammenfassende Learnings:

  • Die Diskussion rund um eine geplante Umfahrungsstraße sollte auf die weitere Entwicklung des Dorfes ausgeweitet werden– wo will man hin und wie kann man eine Umfahrungsstraße dahingehend bestmöglich nutzen?
  • Miteinbeziehen von Bürgern –ein begleitender Gestaltungs- und Entwicklungsprozess sollte gewährleistet sein, der alle Bürger miteinbezieht.
  • Der Bau einer Umfahrungsstraße darf nie abgesondert von aktuellen Entwicklungen oder Themen gesehen werden, sondern sollte auch gesellschaftliche Entwicklungen wie z.B. Mobilitäts- und Freizeitverhalten miteinbeziehen.

Autoren: Greta Erschbamer, Harald Pechlaner

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https://doi.org/10.57708/b22008189
Erschbamer, G. Umfahrungsstraße gebaut – Zentrum tot? https://doi.org/10.57708/B22008189

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