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Herstory im Tibetischen Buddhismus

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Herstory im Tibetischen Buddhismus
Ein Tibetisches Buddhistisches Kloster in Sikkim (Nordindien). Im indischen Exil kamen immer mehr Buddhistische Nonnen mit westlichen Konzepten wie Feminismen oder Gleichstellungsideen in Kontakt. - © Marlene Erschbamer

Der Buddhismus ist rein theoretisch ein Lebensweg für alle. Er kennt keinen Unterschied zwischen Herkunft, Ethnie oder Geschlecht. Die Betonung liegt dabei auf theoretisch. Denn die Realität sieht seit jeher anders aus, vor allem was die Stellung der Frauen betrifft.

In Tibet wurden buddhistische Klöster zu wichtigen Akteuren in Bildung, Gesellschaft, Kultur und Kunst, sowie in Politik und Wirtschaft. Somit gestalteten Mönche alle Bereiche des Lebens aktiv mit. Nonnen hingegen passten nicht in ein solches Gefüge von Macht und Einfluss. Für sie war schlichtweg kein Platz in diesen patriarchalischen Strukturen.

Gerechtfertigt wurde diese Ungleichheit mit traditionellen Klischees: Frauen hätten einen schwächeren Verstand und seien anfälliger für Versuchungen. Als Frau geboren zu werden, signalisiere die Anhäufung von schlechtem Karma in früheren Leben. Frau-sein bedeutet somit, dass es zum Mann-sein nicht ganz gereicht hat. Deshalb wurden - und werden teilweise noch heute - Frauen als natürlich unterlegen angesehen.

Völlige Unterordnung

Buddhistische Nonnen lebten traditionell am Rande der Mönchsklöster und der Gesellschaft. Sie wurden insgesamt weniger respektiert und sahen sich regelmäßig mit abfälligen Kommentaren und Vorurteilen konfrontiert. Zudem haben sie noch heute strengere Ordinationsregeln einzuhalten.

Dazu zählt, dass jede Nonne, egal welchen Alters, verpflichtet ist, sich selbst vor jungen Novizen ehrerbietig zu verneigen. Eine 80-jährige Nonne muss also vor einem Teenie-Mönch respektvoll den Kopf senken. Dies soll permanent die natürliche Unterlegenheit einer Nonne dem Mönch gegenüber in Erinnerung rufen.

Es gab sie aber doch – Nonnen, die zu ihren Lebzeiten hoch verehrt und weithin bekannt waren. Nonnen, die Außergewöhnliches leisteten. Nonnen, die zu Akteurinnen und Vorreiterinnen wurden. Aber nur wenige schafften den Sprung ins sogenannte kulturelle Gedächtnis. Die meisten wurden aus der Geschichte verbannt und allmählich vergessen.

Gerechtfertigt wurde Ungleichheit mit traditionellen Klischees: Als Frau geboren zu werden, signalisiere die Anhäufung von schlechtem Karma in früheren Leben. Frau-sein bedeutet somit, dass es zum Mann-sein nicht ganz gereicht hat.

Marlene Erschbamer

Texte von Männern für Männer

Ein Grund, warum die Geschichte Tibets zahlreiche Männer kennt, aber nur wenige Frauen, ist die Autorenschaft. Schließlich wurden die meisten Schriften von Mönchen für Mönche geschrieben. Frauen nehmen dabei selten eine Rolle ein und wenn doch, dann meist eine untergeordnete. Dafür dominiert durch und durch eine patriarchalische Perspektive.

Obwohl Frauen im religiösen und gesellschaftlichen Leben sehr wohl aktiv waren, wurden ihre Viten, Rollen und Taten seltener niedergeschrieben. Weniger als ein Prozent von Tausenden von Tibetischen Biographien wurden von oder über Frauen geschrieben. Das liegt auch daran, dass viele Frauen des Schreibens gar nicht fähig waren.

Faktor Bildung

Bildung ist eine wichtige Säule der Gleichberechtigung und Chancengleichheit. Gleichzeitig ist Bildung ein Indikator für die Ungleichheit der Geschlechter.

Nun wurden Frauen im Buddhismus geringere intellektuelle Fähigkeiten, ein schwächerer Verstand und eine größere Anfälligkeit für Versuchungen zugeschrieben. Deshalb erhielten nur wenige die Möglichkeit, Lesen und Schreiben zu erlernen – von höheren oder weiterführenden Studien ganz zu schweigen. Die meisten Nonnen mussten sich mit dem Auswendiglernen von einfachen buddhistischen Texten begnügen und höchstens darauf hoffen, im nächsten Leben als Mann wiedergeboren zu werden.

Unsichtbare Frauen: obwohl Frauen im religiösen und gesellschaftlichen Leben sehr wohl aktiv waren, wurden ihre Viten, Rollen und Taten seltener niedergeschrieben. © Marlene Erschbamer

Westlicher Einfluss

In den vergangenen Jahrzehnten verschob sich diese Ungleichheit leicht zugunsten der Frauen. Das liegt daran, dass neue Einflüsse bislang unbekannte Perspektiven eröffneten. Im indischen Exil kamen nämlich immer mehr mit westlichen Konzepten, wie Feminismen oder Gleichstellungsideen, in Kontakt.

Mit westlicher Unterstützung forderten Nonnen elementare Rechte, wie jenes auf Bildung, ein. Das führte mitunter dazu, dass den Nonnen ganz offiziell Türen zu höheren buddhistischen Studien geöffnet wurden. Das war ein Meilenstein in der Geschichte des Tibetischen Buddhismus. Zustande kam das durch ein Aufbrechen von bestehenden Strukturen und den Kontakt mit neuen Perspektiven und Alternativen.

Frauen können nun beweisen, dass sie entgegen der lang gehegten Meinung sehr wohl intellektuelle Fähigkeiten besitzen. Und sie kämpfen weiter für ihre Rechte und mehr Chancen unabhängig des Geschlechts.

Geschichte muss keine reine Männergeschichte oder gar eine Reproduktion von Machtpolitik sein. Anstelle von Männergeschichte geht es darum, Menschengeschichte zu schreiben.

Marlene Erschbamer

Menschengeschichte versus Männergeschichte

In der Zwischenzeit ist es weiterhin hilfreich, in Schriften zu graben und zwischen den Zeilen zu lesen, um die vergessenen Frauen wieder sichtbar zu machen. Dabei bleibt es unabdingbar, differenziert und kritisch zu bleiben, und zwar unabhängig davon, ob eine Wissenschaftlerin eine andere Kultur und Sprache analysiert oder sich mit den eigenen Wurzeln auseinandersetzt.

Das führt insgesamt zu einem besseren Verständnis von historischen Ereignissen und Gegebenheiten, aber auch von bestehenden gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Prozessen. Und schließlich wird dadurch Identität und ein Zugehörigkeitsgefühl gestiftet.

Schlussendlich erinnert das auch daran, dass Geschichte keine reine Männergeschichte oder gar eine Reproduktion von Machtpolitik sein muss. Vielleicht ist das ein Weg, anstelle von Männergeschichte eine Menschengeschichte zu schreiben – und zwar nicht nur in Tibet und nicht nur in einem buddhistischen Kontext.

Marlene Erschbamer

Marlene Erschbamer

Marlene Erschbamer studierte Tibetologie, Philosophie und Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und promovierte dort in Tibetologie und Philosophie. Sie forscht unter anderem zu Frauen im Tibetischen Buddhismus und zu Schnittmengen von Natur, Kultur und Religion im Himalaja. Ihre Forschungsergebnisse inspirieren sie für ihre wöchentlichen Blog-Beiträge auf Erinner mich – Frauen.schreiben.Geschichte, wo sie über Geschichte, Philosophie, dazugehörige Frauenrollen und Klischees schreibt.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b122550231
Erschbamer, M. Herstory im Tibetischen Buddhismus. https://doi.org/10.57708/B122550231

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