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„Reisen ist immer auch der Weg zur Veränderung“

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„Reisen ist immer auch der Weg zur Veränderung“
Auch als Reisende selbst können wir Einfluss darauf nehmen, dass sich an von uns bereisten Orten etwas zum Besseren verändert. - © Adobe Stock/benevolente

Wie geht Innovation im Tourismus und was braucht es, um sie anzustoßen? Wir haben mit Oliver Puhe, Trendforscher und touristischer Innovationscoach, im Rahmen der Online-Fachtagung der HGJ und des Center for Advanced Studies von Eurac Research gesprochen.

Eurac Research: Herr Puhe, Sie sind seit etwa 10 Jahren als Innovationscoach für die Tourismusbranche tätig. Sehen wir uns dieses letzte Jahrzehnt genauer an: Über welche Fehler der Vergangenheit stolpert der Tourismus heute? Was hat er richtig gemacht?

Oliver Puhe: Tourismus ist zu vielfältig, um hier eindeutige Antworten geben zu können. Touristen sind immer die anderen und sicherlich kämpft der Tourismus mit einem Imageproblem. Was die Ausbildungsformen, die Arbeitsbedingungen und Jobprofile angeht, haben wir in den letzten Jahrzehnten keine wesentlichen Veränderungen erlebt, obwohl die gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen komplexer und tiefgreifender denn je geworden sind. Mit dem Fachkräftemangel, der eine enorme Entwicklungsbremse darstellt, bemerken wir diese Versäumnisse nun umso stärker. Wenn wir uns die Produkt- und Angebotsentwicklung ansehen, dann haben wir etwa Themen wie Wellness nicht substanzieller in Richtung einer ganzheitlichen Gesundheitsprävention entwickelt. Im Bereich der Mobilität setzen wir zu stark auf Insellösungen, die vor Ort funktionieren mögen, aber keine vernetzten Reisemöglichkeiten von der Haustür aus darstellen, von der alle profitieren würden. Die Kooperationsbereitschaft innerhalb der Tourismusbranche, aber auch über Branchengrenzen hinweg mit dem Mobilitätsbereich oder dem Handel ist nicht so ausgeprägt wie jene in anderen Branchen und Sektoren. Gleichzeitig fördert er schon immer soziale Interaktion und schafft Begegnungsorte, die erst durch zwischenmenschlichen Austausch und das Zusammentreffen von Gast und Gastgeber oder Reisenden und Bereisten zu Erlebnisräumen werden. Er bringt Menschen zusammen und lässt sie ihr Leben genießen. Weltweit hat er positive Abhängigkeiten geschaffen, die letzten Endes Frieden wahren und Lebensräume für Mensch und Natur schützen können.

Authentische Erlebnisse lassen sich nur über echte Menschen und echte Gefühle schaffen.

Oliver Puhe

Der Tourismus gilt nicht unbedingt als Treiber für Innovation. Wo kann die junge Generation neue Akzente setzen?

Puhe: Junge Menschen brauchen Visionen und Perspektiven. Es liegt an ihnen, Tourismus neu zu denken und ihn interdisziplinär und kollaborativ weiterzuentwickeln. Man sollte aber nicht den Fehler machen, den Innovationsbegriff auf technologische Endgeräte zu verkürzen. Vor allem soziale Innovationen werden in der Branche eine enorme Rolle spielen. dm-Gründer Götz Werner spricht etwa von Innovation als konstruktive Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen. Das ist ein Mindset, das ich auf Reisen und Vorträgen in Südtirol durchaus erleben durfte. Es geht eben nicht um das höher, schneller und weiter, sondern darum, das Beste aus den vorhandenen Ressourcen zu machen. Dazu gehört auch - wenn notwendig - der Rückbau. Eine beispielhafte Innovationsmethode ist dabei die sogenannte frugale Innovation, die aus den vorhandenen Ressourcen Lösungen schafft.

Soziale Innovation ist also der entscheidende Faktor?

Puhe: Genau. Menschen suchen auf Reisen den menschlichen Kontakt, keine Serviceroboter, wie wir sie vielleicht noch aus der alten Schule kennen. Was die Branche braucht, sind neue Jobprofile, die es ermöglichen, verschiedene Facetten der Persönlichkeit zu entwickeln und unterschiedliche Tätigkeiten – von der Mitarbeit im Service bis zur Datenverarbeitung - auszuüben. Wenn wir teilautomatisierte Prozesse wollen, steht uns heute Künstliche Intelligenz zur Verfügung und verschafft uns Zeit, die wir wieder für den Menschen aufwenden können. Authentische Erlebnisse lassen sich nur über echte Menschen und echte Gefühle schaffen. Das bedeutet, dass man die Persönlichkeitsentwicklung schon früh in der Ausbildung fördern muss. Es braucht das offene Gespräch mit jungen Menschen. Was sind die Zukunftsaussichten? Das hat der Tourismus in vielen Bereichen verschlafen. Arbeitsbedingungen im Tourismus sind aufgrund der Saisonalität nicht selten prekär, die Arbeitszeiten unattraktiv und die Bezahlung ist über die Jahre niedriger geworden. Einer der Gründe dafür ist auch der Preiskampf der großen Buchungsplattformen, dem sich die meisten Betriebe nicht entziehen konnten. Darunter leidet die Branche. Die Pandemie könnte man auch dazu nutzen, die tatsächlichen Kosten eines Hotelzimmers aufzustellen und sich bewusst zu werden, welcher Preis eigentlich in Rechnung gestellt werden müsste, um gerecht zu wirtschaften.

Sprechen wir über Trends. Ist die Orientierung daran denn nicht ein Hindernis für tatsächliche Innovation?

Puhe: Man muss immer abwägen, welche Relevanz ein Trend für die eigene Destination überhaupt hat. An Megatrends wie Digitalisierung und Klimawandel kommt man ja nicht vorbei, da sie überall und länger wirken. Makrotrends oder auch Mikrotrends bilden Szenarien, die wiederum Möglichkeitsräume schaffen. In meiner Arbeit dienen sie mir als Inspiration oder auch Irritation, damit wir zu neuen Lösungen kommen können. Kreativität ist dabei die Schlüsselkompetenz.

Der Tourismus gilt einerseits als Verursacher im globalen Desaster der Pandemie und des Klimawandels, kann aber gleichzeitig die globale Lösung sein. Die Branche ist weltweit vernetzt und kann globale Standards setzen.

Oliver Puhe

Bereits vor der Pandemie wurden in Zusammenhang mit Overtourism und Resortisierung Forderungen nach weniger Tourismus laut. Braucht der Tourismus eine Selbstbeschränkung?

Puhe: Nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema, wissen wir, dass Overtourism nur spezifische Zeiten und Orte betrifft. Südtirol hat im Gegensatz zu anderen Regionen keinen offensichtlichen Ausverkauf betrieben, auch wenn es die Stimmen dazu gibt. Allerdings kann die wirkungsvolle Auseinandersetzung mit Übertourismus uns Knowhow bescheren, das wir in anderen Bereichen nutzen können, wenn wir etwa an die digitalisierte Lenkung von Besucherströmen in Echtzeit denken. Eine Verknappung bedeutet in der Regel keine geringere Anzahl an Gästen, sondern eine Veränderung in deren Reiseplanung – insofern kann eine Selbstbeschränkung durchaus eine Lösung sein, wobei man die Preisgestaltung im Auge behalten sollte. Eine Verknappung führt nämlich in der Regel nicht dazu, dass etwas günstiger wird, sondern eher das Gegenteil.

In verschiedenen Studien des Forschungszentrums Eurac Research geht klar hervor: Ohne die Akzeptanz der breiten Bevölkerung kann sich der Tourismus in einer Region nicht nachhaltig weiterentwickeln. Wie kann dieser Dialog gelingen?

Puhe: Das ist die Eine-Million-Euro-Frage, die sich auch in den Wissenschaften alle stellen. Wenn etwas so unsicher und komplex ist, dann muss man Dinge ausprobieren - und das auch so kommunizieren. Der Flughafenausbau, die Ausweisung von Mountainbiketrails oder generell die Begrenzung der Gästezahlen waren heiß diskutierte Themen, bei welchen ich durchaus den Eindruck gewonnen habe, dass die Südtiroler Bevölkerung frühzeitig mitgenommen wurde. Sie hat die älteren Rechte. Bei ihr muss man ansetzen, bevor man sich schließlich bis zu den Gästen durcharbeitet. Die Tourismusbranche sollte sich immer wieder hinterfragen und hinterfragen lassen. Wir brauchen klare Antworten auf die Frage: Wem nützt Tourismus? In einigen Regionen kann er ein Hebel sein, um Mobilität nachhaltig zu gestalten. Hotels und touristische Akteure werden dort zu Mobilitätshubs, die auch von Einheimischen genutzt werden. Andernorts schützen Tourismusanbieter durch ihre Aktivitäten wichtigen Lebensraum für Flora und Fauna. In Städten hilft der Tourismus notleidenden Kulturbetrieben. Es gibt also nicht die eine Antwort für alle.

Welche Zukunft bewegt Sie?

Puhe: Meine Tochter wird bald drei Jahre alt und die Prognosen liefern derzeit keine guten Aussichten für unseren Planeten. Das will ich ändern und ihr eine Zukunft bauen, die nicht nur lebenswert, sondern fantastisch ist. Kurzfristig bedeutet das für sie, wieder unbeschwert in die Kita gehen zu können und mit anderen Kindern zu spielen. Langfristig bedeutet es, das Reisen und den Tourismus dazu zu nutzen, globale Herausforderungen wie Pandemie, Klimawandel und Armut zu bekämpfen. Der Tourismus läuft aktuell als Problembär durch die Welt, schließlich steht er in der Kritik, die Infrastruktur für den Virus zu bieten. Wir haben im Tourismus tatsächlich den Widerspruch, dass er einerseits als Verursacher im globalen Desaster der Pandemie und des Klimawandels dasteht, aber gleichzeitig auch die globale Lösung sein könnte. Die Branche ist weltweit vernetzt und kann globale Standards setzen. Tourismusbetriebe können Vorreiter sein, wenn es darum geht, klimaneutral oder gar CO2-negativ zu wirtschaften. Und auch als Reisende selbst können wir Einfluss darauf nehmen, dass sich an von uns bereisten Orten etwas zum Besseren verändert. Unsere Fragen müssen weg von der Fremdbestimmtheit hin zur kollaborativen Selbstwirksamkeit führen. Wir müssen uns fragen: Welche Zukunft bewegen wir?

Zur Person

Oliver Puhe ist touristischer Trendforscher und Innovationscoach. Seit über 10 Jahren begleitet er Destinationen, Unternehmen und Organisationen in ihrer Zukunftsentwicklung.

Der gesamte Vortrag von Oliver Puhe anlässlich der HGJ-Eurac Research-Fachtagung ist auf dem YouTube-Kanal der HGJ verfügbar.

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HGJ-Eurac Research-Fachtagung 2021 "Tourismus braucht Innovation braucht Netzwerke"

Valeria von Miller

Valeria von Miller

Valeria von Miller ist Communication Manager am Center for Advanced Studies von Eurac Research. Hauptberuflich sucht sie nach Worten, ansonsten verpackt sie sie gerne in Melodien.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b102880571
von Miller, V. „Reisen ist der Weg zur Veränderung“. https://doi.org/10.57708/B102880571

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