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Handweberei

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Handweberei
Reine Handarbeit: ein neues Gewebe entsteht - © Tessanda

In Santa Maria im Val Müstair befindet sich ein ganz besonderes Juwel – und eine Rarität: eine der drei verbleibenden Handwebereien der Schweiz. Hier wird ein Kunsthandwerk ausgeübt, gepflegt, weitergegeben und bewahrt, das zu den ältesten Gewerken der Menschheit gehört: die Handweberei.

Kann eine Weberei ein Bildungs-, Lern- und Erziehungsort sein? Durchaus – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht, wie mir im Gespräch mit Maya Repele, Geschäftsleiterin und Präsidentin des Stiftungsrats der Tessanda, klar wird. Zum einen für die Frauen, die hier als Weberinnen arbeiten: „Vor fast 100 Jahren, im Jahr 1928, wurde die Handweberei gegründet. Die Initiatorinnen, Handarbeitslehrerin Fida Lori und Weblehrerin Floriana Andry, verfolgten, gemeinsam mit dem Dorfpfarrer Rudolf Filli, von Anfang an das Ziel, den Frauen, die oft als Mägde oder Bäuerinnen in Armut lebten, eine würdige Ausbildung zu ermöglichen. Und sie in die Lage zu versetzen, ihre Aussteuer selbst zu weben, damit sie sich gut verheiraten konnten“, erläutert mir Maya.

Hüterinnen eines jahrtausendealten Handwerks: die Weberinnen der Tessanda © Tessanda

Lebenslanges Lernen

Auch wenn die Zeiten sich seither fundamental geändert haben: die Tessanda offeriert heute noch alle zwei Jahre einen Ausbildungsplatz zur Gewebegestalterin. „Drei Jahre dauert eine solche Ausbildung. Aber im Grunde lernt man ein Leben lang. Welches Material eignet sich für welchen Verwendungszweck? Welches Webblatt bringt das beste Ergebnis hervor? Wie verhalten sich Kombinationen unterschiedlicher Garne beim Waschen? Und diese Erfahrungen, dieses Wissen werden zu einem großen Teil mündlich weitergegeben – von Weberin zu Weberin und von Generation zu Generation. Man kann es nicht nur aus Fachbüchern erlernen“, macht mir Maya klar. Das kann ich mir gut vorstellen: da genügt schon ein Blick auf den Zettelbaum mit seinen mehreren hundert Kettfäden!

Bunte Vielfalt in der Tessanda © Tessanda

Geduld, Kreativität, Neugierde und Ausdauer

Dabei erstreckt sich das Lernen und Erziehen noch auf einen weiteren Aspekt: Es ist der Prozess des Webens selbst, der die Weberinnen fundamental prägt. Fida Lori brachte es mit den folgenden Worten zum Ausdruck: „Unsere Arbeit ist uns auch darum lieb, weil sie eine treffliche Erzieherin ist. Sie lehrt uns Geduld zu üben, genau zu sein, immer wieder vorne anzufangen. Der Beruf soll also nicht nur Verdienst bringen, sondern auch innere Werte vermitteln.“ Daran hat sich bis heute nichts verändert – denn der Webprozess ist ja gleichgeblieben, und auch die Arbeitsmaterialen, in erster Linie natürlich die teils über einhundertjährigen Webstühle, sind im Wesentlichen dieselben. Da hilft es vermutlich, wenn man grundsätzlich ein eher ruhiges, geduldiges und ausdauerndes Naturell besitzt – aber über die Jahre hinweg ‚erzieht‘ die Tätigkeit die Weberinnen auch beständig in diese Richtung. Oder, wie Weberin Elena es ausdrückt: „Wenn man in den Rhythmus kommt, hat es etwas Meditatives.“

„Ich würde mir wünschen, dass die Thematik Abwanderung und Überalterung stärker auf die politische Agenda gesetzt wird als bisher.“

Maya Repele, Santa Maria Val Müstair

„Qualität für eine halbe Ewigkeit ist unser Anspruch“

Aber auch in einer ganz anderen Hinsicht entfaltet die Tessanda als Lehr- und Erziehungsanstalt Wirkung. Und dies spüre ich am eigenen Leib – auch noch Wochen nach meinem Besuch, und obwohl ich nie an einem Webstuhl gesessen habe: Die Tessanda lehrt, wie viel Arbeit – und zwar ausschließlich Handarbeit – in den Erzeugnissen der Weberinnen steckt. Mit wie viel Sorgfalt und Perfektionismus die Frauen an ihre Tätigkeit herangehen. Welch entscheidende Rolle Nachhaltigkeit in diesem Betrieb spielt – und zwar sowohl in Hinsicht auf die Herkunft der Materialien und den Umgang mit Ressourcen als auch die betriebswirtschaftliche Nachhaltigkeit. Die Tessanda erzieht, indem sie uns zum Nachdenken anregt – und zwar über unser eigenes Konsumverhalten. Denn hier entstehen Produkte für ein ganzes Leben. So sind die Stücke, die man hier erwirbt, eigentlich in zweifacher Hinsicht ein kulturelles ‚Erbe‘: Sie entstanden auf der Basis eines jahrtausendealten kulturellen Wissens – und sie können, aufgrund ihrer fantastischen Qualität, an die nächste Generation vererbt werden. Fast hat es den Anschein, als möchte die ‚Langsamkeit‘ des Webens zu einer ‚Langsamkeit des Konsums‘ auffordern, eines Konsums, der Ressourcen schont, lokale Wertschöpfung generiert, Agro-Biodiversität bewahrt und das Kulturerbe lebendig und vital erhält. So wird der Besuch in der Tessanda nicht zuletzt zu einer Lektion in Sachen ‚Weniger (qualitätvolles) ist mehr‘. Und auf diese Weise ist die Tessanda tief in der Geschichte verankert – und erzählt gleichzeitig eine Geschichte von der Zukunftsfähigkeit des lebendigen Kulturerbes. Oder, wie Weberin Carla es ausdrückt: „Handweben ist Zukunft.“ Wir sollten dankbar sein für diesen Ort.

Präzise Sache: nach dem Weben kommt das Nähen © Tessanda

Von der Herausforderung betriebswirtschaftlicher Nachhaltigkeit in einem stillen Seitental

Mit welchen Herausforderungen hat man eigentlich zu tun, wenn man in einem kleinen Dorf in einem Seitental der Alpen ein Unternehmen betriebswirtschaftlich nachhaltig führen will? Auch auf diese Frage komme ich mit Maya zu sprechen. „Es ist eine fundamentale Lebensentscheidung für die Leute, die nicht aus dem Val Müstair stammen, hierher nach Santa Maria zu kommen. Santa Maria selbst hat rund 350 Einwohner, im Val Müstair insgesamt leben 1.400 Menschen. 70 Prozent von ihnen sind über 65 Jahre alt. Und wir haben mit Abwanderung zu kämpfen: Allein in den vergangenen zehn Jahren ist die Bevölkerung um 10 Prozent geschrumpft. Die soziale und kulturelle Infrastruktur, vor allem aber auch die Möglichkeiten zur Weiterbildung, sind beschränkt.“

Dass es da nicht einfach ist, derart qualitätvolle Arbeitsplätze, wie sie die Tessanda bietet, langfristig zu bewahren, kann ich mir vorstellen. Und Patentrezepte gibt’s natürlich keine. „Ich würde mir aber wünschen“, merkt Maya an, „dass dieses Thema stärker auf die politische Agenda gesetzt wird als bisher. Es muss offen diskutiert werden, dass sich aus dem Muster ‚wenig Kinder, wenig Wohnraum für Einheimische, keine Zuwanderung, wenig Innovation und wenig Steuereinnahmen‘ ein gefährlicher Teufelskreislauf entwickeln kann, der für traditionelles Handwerk potenziell einen Killerfaktor darstellt.“

Mit der Biosfera Val Müstair aber hat die Tessanda einen starken Partner: „Mit ihnen ziehen wir inhaltlich an einem Strang“, sagt Maya. „Denn es gibt so Vieles, was man tun könnte und müsste – angefangen von den Möglichkeiten für die Frauen, auch als Mütter einer Arbeit nachzugehen oder sich weiterzubilden. In Ermangelung von Alternativen bin ich kurzerhand selbst aktiv geworden und habe 14 Weiterbildungskurse organisiert – indem ich die Expertise von außen ins Tal gebracht habe. Unsere aktuelle Strategie ist, die Tessanda zu einem möglichst attraktiven Arbeitgeber zu machen, gute Arbeitsbedingungen zu bieten und eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Können der Weberinnen zum Ausdruck zu bringen. Was wir aber eigentlich brauchen, ist eine breit angelegte Debatte, damit wir auch in 20 Jahren noch wissen, wie wir gut ausgebildete Schweizer Handweberinnen in der Region selbst ausbilden oder ins Val Müstair locken können.“

Hüterinnen der Vielfalt Maya Repele und die Weberinnen der Tessanda, Santa Maria Val Müstair

Die Tessanda findet sich am Plaz d’Ora 14 in 7536 Santa Maria Val Müstair, nur wenige Schritte von der Postauto-Haltestelle ‚Santa Maria cumün‘. Auf der reich bebilderten Webseite finden sich vom Klappern der Webstühle bis hin zum Sortiment viele weitere Informationen: Handweberei Tessanda - Sta. Maria Val Müstair. Über ein Buchungsformular lassen sich auch Führungen durch die ‚heiligen Hallen‘ der Tessanda reservieren.

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.

Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:

  • 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
  • 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
  • 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
  • 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt arbeitet am Institut für Regionalentwicklung zur großen Vielfalt der Thematik ‚Lebendiges Kulturerbe‘.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b122239493
Schmidt, R. Tessitura artigianale. https://doi.org/10.57708/B122239493

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