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Stilzer Pfluagziachn, Klosn und andere Brauchtümer

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Stilzer Pfluagziachn, Klosn und andere Brauchtümer
Das Klosn findet jährlich Anfang Dezember ins Stilfs statt. Es ist mit einer Art Initiationsritus verbunden, weswegen auch ehemalige Stilfser sehr gerne daran teilnehmen. - © Gianni Bodini

Chalandamarz, Scheibnschlogn, Hom Strom, Klosn, … – zu allen Jahreszeiten kann man im Unterengadin, Val Müstair und Vinschgau Zeuge eines sehr vielfältigen Brauchtums werden. Mit viel Engagement und Leidenschaft kümmern sich zahlreiche ‚Hüter der Vielfalt‘ darum, dass die Riten lebendig, die Feste gefeiert und das damit verbundene Wissen bewahrt werden. Denn eines ist klar: Wie auch die übrigen Beispiele des lebendigen Kulturerbes ist auch das Brauchtum kein ‚Selbstläufer‘. Ein eindrückliches Zeugnis hiervon vermittelt mir das Gespräch mit Roland Angerer aus Stilfs, einer tragenden Figur für die Wiederbelebung des Stilzer Pfluagziachns.

Roland, kannst Du uns bitte schildern, was für Dich den Anreiz darstellte, das Pfluagziachn wiederzubeleben?

Zur Beantwortung dieser Frage muss ich kurz die Geschichte abtauchen: Grundsätzlich handelt es sich beim Pfluagziachn ja um eine sehr alte Tradition. Wann man damit begonnen hat, ist freilich unklar. Jedenfalls wurde es bis etwa in die 1960er Jahre regelmäßig alle zwei Jahre durchgeführt.

Mit dieser Regelmäßigkeit war es dann aber vorbei, als nicht mehr ausreichend Leute für die Organisation zusammenkamen. Dazu muss man wissen, dass es in Stilfs ‚festgeschriebenes Gesetz‘ ist, dass die sogenannten Spielbuam, also diejenigen Männer, die zur Musterung mussten, die Volksbräuche organisierten – so zum Beispiel auch das Klosn.

In den 1970ern und 1980ern wurde das Pfluagziachn entsprechend nurmehr sporadisch abgehalten. 1987 wurde es dann letztmalig organisiert. Und dann kam das Jahr 1990 – der Moment, in dem ich aktiv wurde, ja, aktiv werden musste. Auslöser hierfür war die Veranstaltung einer ‚Schau‘, also einer Art Ausstellung im Schwimmbad von Prad, im Sommer dieses Jahres. Thema waren altes Handwerk und das Leben in den ‚alten Zeiten‘ – und Zielgruppe waren unter anderem und vor allem Touristen. Das hat mich erschüttert: eine derartige Zurschaustellung von Brauchtum, vollkommen dekontextualisiert, ja, deplaziert, folklorisiert, und dann auch noch für rein touristische Zwecke? Das kam einer Farce schon ziemlich nahe, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Mit ‚echtem‘, gelebtem und lebendigem Brauchtum jedenfalls hatte das rein gar nichts zu tun.

Sollte das unsere Zukunft sein? Kein echtes, gelebtes Brauchtum mehr in unseren Ortschaften, stattdessen eine dekontextualisierte ‚Musealisierung‘ anhand einer Handvoll Objekte? Das konnte nicht angehen!

Jede Menge Sägemehl: beim Stilzer Pfluagziachn © Gianni Bodini

„Brauchtum schafft Identität, Verwurzelung, ein Zugehörigkeitsgefühl, ja, eine emotionale Heimat. Die Ausübung von Brauchtum muss aus dem Inneren der Gemeinschaft kommen, ein echtes Bedürfnis sein, eine Notwendigkeit. Auf diese Weise wird Brauchtum zu einer Kraftquelle.“

Roland Angerer, Stilfs

Und was passierte dann? Es ist ja sicherlich nicht einfach, von diesem Gefühl, dass etwas ‚unerträglich‘ ist, ins konstruktive Handeln zu kommen. Gerade in Bezug auf ein lebendiges Kulturerbe wie das Stilzer Pfluagziachn, das ja von einer großen Vielzahl an Akteuren abhängt.

Meine erste Adresse war der Präsident des Sportvereins, da es noch keinen Kulturverein gab. Dabei ging es gleich und in erster Linie um die Revitalisierung des Stilzer Pfluagziachns. Und zum Glück sagte er mir gleich seine Unterstützung zu.

Und dann begann die Arbeit – eine wahnsinnig anstrengende Zeit! Schließlich galt es, die Dorfbevölkerung über unser Anliegen zu informieren, auch die Vereine ins Boot zu holen, Schauspieler zu suchen usw. Nicht zuletzt mussten wir die älteren Dorfbewohner erreichen und motivieren, Teil des Projekts zu werden. Denn das Wissen erodierte ja in einer erschreckenden Schnelligkeit: Die jüngere Dorfbevölkerung wusste schlicht und einfach nicht mehr Bescheid über den detaillierten Ablauf, die Rolle und Hintergründe einzelner Figuren des Pfluagziachns.

Jedenfalls zahlten sich unsere Mühen aus: 1991 wurde das Pfluagziachn wieder auf die Beine gebracht. Und zwar unter Beteiligung von älteren und jüngeren Dorfbewohnern gleichermaßen. Auch 1993 haben wir es wieder veranstaltet – unter ähnlichen Anstrengungen. Grundsätzlich war das schon ein Erfolg, aber wir wollten das Ganze ja revitalisieren, also neuerlich zur Regelmäßigkeit machen. Und an diesem Punkt waren wir offensichtlich noch nicht angelangt: Zu sehr bedurfte es des Inputs von außen, der Motivation vor allem auch durch meine Person. Das Bedürfnis, das Pfluagziachn wieder regelmäßig stattfinden zu lassen, kam noch nicht ‚aus dem Inneren‘ der Dorfgemeinschaft. Es war noch nicht wieder zu einer ‚Notwendigkeit‘, zu einem ‚festen Termin im Kalender‘ geworden. Entsprechend gab es dann neuerlich eine Pause, in den Jahren 1993 bis 1998. Allerdings wurde 1996 der Bildungsausschuss von Stilfs gegründet, ein Kulturträgerverein. Ehrensache, dass ich da Gründungsmitglied war! Auf der Basis des Bildungsausschusses jedenfalls haben wir es dann geschafft, das Pfluagziachn 1998 wieder stattfinden zu lassen – und seither in aller Regelmäßigkeit, ohne weitere Ausfälle!

Das Pfluagziachn hat also seine Lebendigkeit wiederbekommen – und die nächste Generation hat übernommen. Die Saat wurde gesät und sie ist aufgegangen, in den Köpfen und Herzen der Dorfbevölkerung.

Hom Strom: Schulkinder aus Scuol bringen das Roggenstroh vom alten Heustall der Gemeinde zum Plaz © Dominik Taeuber

Wer sind denn heute die Träger der Tradition?

Inzwischen gibt es ein Komitee von vier jungen, engagierten Leuten. Da es sämtlich alte Schüler von mir sind, kenne ich sie gut und weiß entsprechend, dass sie miteinander harmonieren und sich gut ergänzen. Einer von ihnen, Jörg, hat schon als Schüler Einladungskarten zum Pfluagziachn gestaltet. Inzwischen ist er Präsident vom örtlichen Theaterverein. Ich selbst werde inzwischen nurmehr bei Ratschlägen konsultiert, die gesamte Organisation wird von anderen Schultern getragen.

Früher wurden Klosn und Pfluagziachn vom gleichen Komitee organisiert. Wie gesagt, es waren ja die ‚Spielbuam‘, die beides auf die Beine stellten. Da die jüngere Geschichte der beiden Praktiken aber unterschiedlich verlaufen ist, haben wir heute zwei unterschiedliche Komitees.

Natürlich hängen das Brauchtum und seine Weitergabe bis zu einem gewissen Grad immer auch von der demografischen Situation in den Dörfern statt. Was Stilfs angeht, stagniert die Einwohnerzahl aktuell. Am Klosn aber nehmen auch ehemalige Stilfser teil, da sie Teil einer Gemeinschaft sind, in die man mittels eines Initiationsrituals Zugang erhält. So etwas gibt man nicht einfach auf.

Mit ihren Glocken lärmen die Kinder beim Chalandamarz durch die Unterengadiner Dörfer © Dominik Täuber

Kannst Du in Worte fassen, was die Ausübung von Brauchtum bedeutet, für Dich persönlich, aber auch für die Stilfser Dorfgemeinschaft insgesamt?

Brauchtum schafft Identität, Verwurzelung, ein Zugehörigkeitsgefühl, ja, eine emotionale ‚Heimat‘. Die Ausübung von Brauchtum muss ‚von Innen‘ kommen, muss ein ‚echtes‘ Bedürfnis sein, eine Notwendigkeit. Es ist klar, dass dabei Emotionen eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Auf diese Weise wird Brauchtum zu einer Kraftquelle.

Nicht zuletzt schafft Brauchtum diejenigen Geschichten, die die Dorfgemeinschaft kitten. Das war mir bei der Wiederbelebung des Pfluagziachns ein ganz wichtiges Anliegen. Auch in Sachen Abwanderung kann lebendiges Brauchtum, das stark in der Gemeinschaft verwurzelt ist, regulierend sein, da es ein starkes Zugehörigkeitsgefühl erzeugt. So etwas kann mitentscheidend sein bei der Frage ‚Gehe ich oder bleibe ich?‘.

Beim Zusslrennen in Prad © Gianni Bodini

Eine letzte Frage: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf das lebendige Brauchtum ausgewirkt?

Ach ja, die Pandemie! Was das Pfluagziachn anlangt, so haben wir es im Februar 2020 kurz vor dem totalen Lockdown noch in einem Gefühl der Leichtigkeit, Unbeschwertheit und Sorglosigkeit durchführen können – und inzwischen weiß man ja, dass Veranstaltungen an der frischen Luft auch in größeren Gruppen kein signifikantes Problem darstellen. So konnten wir es auch 2022 in aller Fröhlichkeit durchführen.

Das Klosn hingegen findet jährlich Anfang Dezember statt, fiel also in bisher zwei Jahren mitten in die Zeit von hohen Inzidenzen und Kontaktbeschränkungen. Gleichwohl war im Dorf ein starkes Verlangen, fast schon existenzielles Bedürfnis nach der Abhaltung dieses Brauchtums zu spüren – gegen alle Widerstände. Wir haben es dann auch gemacht! Ohne dass es publik gemacht wurde oder viel darüber geredet wurde. Teilgenommen haben entsprechend auch kaum Leute von außen. Aber der Umzug hat in gleicher Form stattgefunden wie sonst auch. Und man spürte eine große Freude und Begeisterung bei den Akteuren. Es trotz aller Widerstände stattfinden zu lassen – das gab uns ungeheuer viel Kraft und unser dorfschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl ist hierdurch nochmals gestärkt worden.

Hüter der Vielfalt: Roland Angerer, Stilfs

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.

Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:

  • 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
  • 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
  • 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
  • 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt arbeitet am Institut für Regionalentwicklung zur großen Vielfalt der Thematik ‚Lebendiges Kulturerbe‘.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b122235042
Schmidt, R. Il Pfluagziachn di Stelvio e altre usanze. https://doi.org/10.57708/B122235042

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