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Südtirols bäuerliche Familienbetriebe: Wohin geht die Reise?

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Südtirols bäuerliche Familienbetriebe: Wohin geht die Reise?
Bergbauer in Südtirol auf der Weide - © Rotwild Brixen

Bäuerinnen und Bauern in Südtirol gelten vielfach als privilegiert und wohlhabend. Ein Blick auf die Zahlen eröffnet allerdings, dass viele von ihnen unter erheblichem Druck stehen: 2.796 landwirtschaftliche Betriebe haben in Südtirol im Zeitraum 2000-2010 ihre Tore geschlossen. In Kürze wird die Situation der landwirtschaftlichen Betriebe erneut analysiert. Einige Entwicklungsstrategien, die Hoffnung auf eine erfolgreiche Weiterentwicklung der bäuerlichen Landwirtschaft versprechen, gibt es bereits.

Die COVID-19-Pandemie hat es erneut gezeigt: Landwirtschaft ist und bleibt ein heißes Eisen. Selten rutschten so viele unterschiedliche Aspekte der Landwirtschaft für ein so großes Publikum in den Mittelpunkt: Konsumentinnen und Konsumenten reflektieren über das Agrar- und Ernährungssystem und ihre Konsumgewohnheiten, Bürgerinnen und Bürger kritisieren den 600-Euro Bonus für Landwirtinnen und Landwirte, diese wiederum zerbrechen sich angesichts rigider Covid-19-Maßnahmen und Einreisebeschränkungen für ausländische Hilfsarbeitskräfte den Kopf, wie ihre Ernte eingebracht werden kann und von wem. Offensichtlich wird oft erst in Krisenzeiten deutlich, wie wichtig manche Dinge sind, die man für selbstverständlich hält. Grund genug, die bäuerliche Landwirtschaft in Südtirol genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie sieht diese aus und wie entwickelte sie sich? Vor allem aber: Wie können bäuerliche Betriebe bestehen bleiben?

Bäuerin- und Bauer-Sein in Südtirol

Was es heißt, Bäuerin oder Bauer zu sein, ist keine einfache Frage. Denn Bäuerin ist nicht gleich Bäuerin und Bauer nicht gleich Bauer. Deren Sein, Leben und Wirken unterscheidet sich von Region zu Region, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Berg zu Tal, von Familie zu Familie und von Mensch zu Mensch. Auch in Südtirol gibt es nicht DIE Bäuerin oder DEN Bauern. Dementsprechend unterscheiden sich auch die bäuerlichen Betriebe. Gewisse Eigenschaften sind dennoch vielen ähnlich.

In Familienhand

Die Südtiroler Landwirtschaft liegt in den Händen von Familien. Ganze 96 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe fallen in die Kategorie der Familienbetriebe. Eigentümerin oder Eigentümer des landwirtschaftlichen Betriebes ist dabei eine Einzelperson. Typisch ist die traditionelle Weitergabe des Hofes von Generation zu Generation sowie die Mithilfe der Familienmitglieder am Hof.

„Geschlossener Hof“

Untrennbar mit dem Familienbetrieb verbunden ist die Führung vieler Südtiroler Landwirtschaftsbetriebe als sogenannte „geschlossene Höfe“. Diese Institution garantiert die Vererbung des Betriebes an die oder den NachfolgerIn in seiner Gesamtheit. Damit wirkt er einer Zerstückelung des Betriebes bei der Erbschaft bis hin zu seiner Unwirtschaftlichkeit entgegen. Dem „geschlossenen Hof“ und der dazugehörigen Vererbungssitte ist es zu verdanken, dass viele bäuerliche Familienbetriebe seit Jahrhunderten bestehen.

Genossenschafts- und Gemeinschaftswesen

Betrachtet man die hohen Mitgliederzahlen bäuerlicher Betriebe bei Genossenschaften und anderen Gemeinschaftsformen, so kann auch das Genossenschafts- und Gemeinschaftswesen als charakteristisch bezeichnet werden. Genossenschaften stellen nicht die reine Gewinnmaximierung in den Mittelpunkt, sondern die wirtschaftliche Förderung und gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder.

Netzwerk

Bäuerinnen und Bauern in Südtirol sind außergewöhnlich gut vernetzt und können auf vielerlei Strukturen zurückgreifen, die sie fördern und unterstützen. Von der Beratung über das Lobbying bis hin zur Ausbildung und Forschung finden sich in Südtirol vielerlei Institutionen, die mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Entwicklung der Landwirtschaft

20.247 landwirtschaftliche Betriebe sind es, die laut der letzten Landwirtschaftszählung der ASTAT 2010 in Südtirol tätig sind. Doch der allseits bekannte Agrarstrukturwandel macht auch vor der Landwirtschaft in Südtirol keinen Halt. So haben im Beobachtungszeitraum 2000-2010 2.796 landwirtschaftliche Betriebe ihre Tätigkeit eingestellt (-12,1 Prozent). Das Ausmaß des Rückgangs variiert von Gebiet zu Gebiet. So ist das Wipptal mit einem Rückgang von 25,2 Prozent am stärksten betroffen, der Bezirk Überetsch-Unterland mit -1,2 Prozent am wenigsten. Bei den Apfelanbaubetrieben ließ sich im zehnjährigen Beobachtungszeitraum ein Rückgang von 10 Prozent beobachten, bei den Weinbaubetrieben sind die Zahlen weitgehend stabil geblieben und bei den rinderhaltenden Betrieben sind sie um 12,3 Prozent gesunken. Betrachtet man hingegen die Anbaufläche für Obst und Wein, so ist diese um 3,5 Prozent bzw. 10,1 Prozent gestiegen, was für eine Zunahme der Betriebsgrößen spricht. Auch bei den rinderhaltenden Betrieben stehen 2010 mehr Rinder im Stall als es im Jahr 2000 der Fall war. Insgesamt erhöhen die Betriebe damit ihre durchschnittliche Betriebsgröße von 11,6 Hektar im Jahre 2000 auf 11,9 Hektar im Jahr 2010. Eine weitere große Entwicklungslinie ist der biologische Anbau, der sich in Südtirol stetig ausweitet. Einheitlich betrifft der Rückgang die Organisationsform der Familienbetriebe.

Südtiroler Landwirtschaft als Erfolgsmodell?

Vieles spricht für die Südtiroler Landwirtschaft als Erfolgsmodell. Neben den genannten zentralen Eigenschaften haben noch eine Reihe weiterer Faktoren Einfluss auf den Erfolg der Landwirtschaft in Südtirol wie beispielsweise die gute infrastrukturelle Erschließung, vielfältige Neben- und Zuerwerbsmöglichkeiten, eine vorhandene Hofnachfolge, die geringen Transaktionskosten und hohe Flexibilität der Familienbetriebe. Wie so oft gibt es aber auch eine Kehrseite der Medaille. So steht beispielsweise das Genossenschaftswesen unter Kritik starr zu sein, Entscheidungen langwierig zu gestalten und sich zunehmend von seinen Mitgliedern zu entfernen. Auch das Lobbysystem des Bauernbundes wird vielfach als zu mächtig und die politische Vertretung als überrepräsentiert kritisiert. Die Konzentration der Betriebe auf nur ein Betriebsziel wird als Schwäche gesehen. Auch wirken sich Charakteristika des Familienbetriebes oft nachteilig aus: oft ist er zu klein, zu wenig innovativ, zu wenig professionell, zu wenig effizient und zu stark in Traditionen verhaftet, um am schnelllebigen Markt erfolgreich zu sein. Heikel sind auch der Ausfall eines Familienmitgliedes, die Suche nach einer Hofnachfolge sowie die gesellschaftliche Perspektive auf die Landwirtschaft.

Entwicklungsstrategien

Jan Douwe van der Ploeg et al. nennen im Werk „Living countrysides: Rural development processes in Europe: The state of the art” (2002) drei Entwicklungsstrategien als erfolgsversprechend, um bäuerlich organisierte Betriebe zukunftsfähig zu gestalten. Beim „Deepening“ wird die Landwirtschaft innerhalb der Nahrungsmittelproduktion neu positioniert: anstelle der reinen Rohstoffproduktion tritt die Verarbeitung, Veredelung und Direktvermarktung (ab Hof, Bauernmarkt usw.). Dadurch steigt die Wertschöpfung am Hof, neue Arbeitsplätze können geschaffen und Spezialitäten hergestellt werden. Auch die biologische Landwirtschaft ist eine Ausprägung des „Deepening“. Doch gilt Vorsicht: Verarbeitung, Veredelung und Direktvermarktung bergen begrenztes Potential, da man hierfür professionell sein und ausreichende Ressourcen zur Verfügung haben muss. Das „Broadening“ organisiert den Betrieb neu und fördert ihn in seiner Vielfalt. Engagement in neuen Bereichen (z.B. Energiewirtschaft, Natur- und Landschaftsmanagement, Freizeitwirtschaft, Sozialbereich, Produktdiversifizierung) sind typisch. Landwirtschaft und die neuen Aktivitäten bedingen und stärken sich dabei gegenseitig. Unter den Zu- und Nebenerwerben sticht in Südtirol vor allem der Urlaub auf dem Bauernhof mit all seinen negativen und positiven Aspekten hervor. Daneben sind es das bäuerliche Handwerk, die Energieproduktion und die Soziale Landwirtschaft, die an Bedeutung gewinnen. Bei der Repositionierung der Ressourcen des Betriebes („Regrounding“) gilt es, entweder eine äußerst ökonomische Form der Landwirtschaft (geringe Inputs, wenige Arbeitskräfte usw.) zu kreieren oder außerlandwirtschaftlichen Aktivitäten nachzukommen, um unter anderem am Betrieb größeren finanziellen Spielraum zu erhalten. Die Zielsetzung können einzelbetrieblich oder gemeinschaftlich (Kooperationen, Zusammenschlüsse usw.) angegangen werden. Für Südtirol sind Kooperationen seit geraumer Zeit eine wichtige Stütze, doch gibt es noch einiges an Potential wie beispielsweise Gemeinschaftsställe und branchenübergreifende Zusammenarbeit etwa zwischen Landwirtschaft und Gastronomie.

Entwicklungen 2010-2020

Der bäuerliche Familienbetrieb ist nach wie vor die zentrale Säule der Südtiroler Landwirtschaft. Die Entwicklung bäuerlicher Familienbetriebe in Südtirol ist nicht nur für die Bäuerin und den Bauern relevant, gefährdet ein Rückgang nicht nur eine gesamte Berufsgruppe und Lebensweise, sondern auch die Lebensmittelversorgung, derzeitige landschaftliche Verhältnisse, die dezentrale Besiedelung des Landes usw. Wie sich der Entwicklungstrend fortsetzt, wird die nächste Landwirtschaftszählung berichten. Im Herbst 2020 ist es soweit und wir dürfen gespannt sein, wie sich die Betriebszahlen entwickelt haben und ob diverse Entwicklungsstrategien erfolgreich waren.

Johanna Höller

Johanna Höller

Johanna Höller ist Biologin und Soziologin und macht derzeit ihren Master in Agrar- und Ernährungswirtschaft an der BOKU in Wien. Sie liebt die Gegensätze: den Berg und das Tal, die Natur und die Kultur, die Tradition und die Moderne, mal „Action“ und mal Ruhe. Besonders am Herzen liegen ihr die Agrarsoziologie und Regionalentwicklung. Antreffen kann man sie in der Apfelwiese, im Garten, beim Sportlen oder mit einer Tasse Tee auf der Couch.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b11017211
Höller, J. Südtirols bäuerliche Familienbetriebe: Wohin geht die Reise? https://doi.org/10.57708/B11017211

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