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© Thomas Haller

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Patente Lösung

Weil es das Gerät, das sie für eine wissenschaftliche Untersuchung brauchten, nicht gab, bauten zwei Forscher es kurzerhand selber. Und eröffneten damit ein neues Forschungsfeld.

by Laura Defranceschi

Wie der Sauerstoff von der Lunge ins Gewebe transportiert wird, ist bekannt. Man weiß auch, dass Kälte oder Kohlenstoffdioxid den Sauerstofftransport beeinflussen. Einfach zu messen ist diese Situation mit den verfügbaren medizinischen Geräten jedoch nicht. Dabei spielt der Sauerstofftransport vor allem für die Intensivmedizin eine bedeutende Rolle. Im Zuge eines Forschungsvorhabens stießen zwei Wissenschaftler auf diese Lücke und beschlossen, sie zu schließen.

Alles begann mit einer PhD-Arbeit, die der junge Assistenzarzt Simon Woyke von der Universitätsklinik für Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin an der Medizinischen Universität Innsbruck im Rahmen einer Forschungskooperation mit dem Institut für Alpine Notfallmedizin in Angriff nahm. Er wollte ein besonderes medizinisches Phänomen näher untersuchen, das nur bei einer Lawinenverschüttung möglich ist: Das Triple-H-Syndrom; benannt nach den drei Faktoren Sauerstoffmangel (Hypoxie), erhöhter CO2-Gehalt im Blut (Hyperkapnie) und Unterkühlung (Hypothermie). Verschüttete, bei denen es nachgewiesen wurde, überlebten überraschend gut und ohne bleibende Schäden, in einem Fall sogar bei einer Körpertemperatur unter 20 Grad. Das Syndrom tritt auf, wenn die Atemwege nach einer Lawinenverschüttung frei sind und eine Atemhöhle vor dem Gesicht besteht. Die ausgeatmete Luft lässt den Anteil an CO2 in der Atemhöhle schnell ansteigen. Diese Luft wird wieder eingeatmet und erhöht die CO2-Konzentration im Blut, was dazu führt, dass der oder die Verschüttete bald das Bewusstsein verliert und in eine Art künstliche Narkose fällt. Sie beschleunigt die Abkühlung des Körpers, die mitunter massiv sein kann. Sie kann jedoch lebensrettend sein, denn der Stoffwechsel wird dadurch drastisch heruntergefahren; nur noch die notwendigen Körperfunktionen bleiben aufrecht, und der Körper, insbesondere das Gehirn, senkt seinen Sauerstoffbedarf auf ein Minimum. Was genau zum Triple-H-Syndrom führt und warum es die Verschütteten mitunter stundenlang vor einem Tod unter den Schneemassen bewahrt, konnte die Wissenschaft noch nicht restlos klären. Eine Vermutung ist, dass es durch das Syndrom zu besonders günstigen Konstellationen bei der Sauerstoffbindung des Hämoglobins im Blut kommt und somit die Qualität der Sauerstoffsättigung verbessert wird. Bei seiner PhD-Arbeit wurde Woyke von Hermann Brugger begleitet, Experte im Bereich der Lawinenmedizin und Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin von Eurac Research, der das Triple-H-Syndrom 2001 erstmals beschrieben hat. „Wir wissen, dass die Sauerstoffbindungskurve – also die Fähigkeit des Hämoglobins im Blut, den Sauerstoff zu binden und auch abzugeben – einen starken Einfluss darauf hat, wie gut der Sauerstoff im Gewebe aufgenommen wird. Und das wichtigste Gewebe, das bei Sauerstoffmangel großen Schaden nehmen kann, ist das Gehirn“, erklärt Brugger. „Uns interessiert vor allem, noch besser zu verstehen, was mit dem Hämoglobin im Zuge des Triple-H-Syndroms passiert – inwiefern es tatsächlich unter diesen Bedingungen besser Sauerstoff aufnehmen kann“, so der Lawinenmediziner.

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Simon Woyke© Simon Woyke
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Thomas Haller© Thomas Haller

Jeder Arzt kennt sie, kaum jemand kann sie messen: die Sauerstoffbindungskurve

Seit etwa hundert Jahren wird die Sauerstoffbindungskurve erforscht. In einem S-förmigen Verlauf – zunächst im unteren Bereich flach, dann steil ansteigend und im oberen Bereich wieder flach – beschreibt sie die kooperative Bindung von Sauerstoffmolekülen an das Hämoglobin in den roten Blutkörperchen, also wie Sauerstoff aus den Lungen durch das Blut in das Gewebe transportiert und dort abgegeben wird. „Jeder Arzt kennt die Sauerstoffbindungskurve und weiß, dass sie extrem wichtig ist, damit der Sauerstofftransport überhaupt effektiv funktioniert“, macht Simon Woyke deutlich. „Man weiß auch, dass verschiedene Faktoren – vor allem jener der Temperatur – einen starken Einfluss auf die Kurve haben“, so Woyke. Doch seit den 1980er Jahren ist in der Forschung dazu nahezu ein Stillstand eingetreten, es wurden keine wesentlichen Studien zur Sauerstoffbindungskurve mehr gemacht. Woyke wollte das Thema erstmals wieder aufnehmen und in seiner PhD-Arbeit in Zusammenhang mit dem Triple-H-Syndrom genauer untersuchen. Im Zuge seiner Recherchen wandte sich Woyke an Thomas Haller vom Institut für Physiologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Die beiden stießen lediglich auf ein einziges kommerziell verfügbares Gerät, mit dem die Sauerstoffbindungskurve gemessen werden kann: Der „Hemox Analyzer“ wird in den USA hergestellt, kostet rund 35.000 Euro und kann innerhalb einer halben Stunde eine Messung von einer einzelnen Blutprobe bewältigen. „Bei dreißig Probanden und zwanzig verschiedenen Kombinationen, die wir untersuchen wollten, hätten wir Monate gebraucht – das erschien uns zu kostspielig, verringert die Vergleichbarkeit und untermauert die Tatsache, dass es schlichtweg kein brauchbares Gerät gibt, mit dem man die Sauerstoffbindungskurve effektiv und mit hohem Durchsatz messen kann“, beschreibt Woyke die Ausgangssituation.

Es gibt schlichtweg kein brauchbares Gerät, mit dem man die Sauerstoffbindungskurve effektiv und mit hohem Durchsatz messen kann.

Simon Woyke

Woyke und Haller überlegten deshalb, ob sich mittels moderner Möglichkeiten zur Messung des Sauerstoffpartialdrucks und der Vielseitigkeit moderner Plattenleser, also basierend auf Materialen und Geräten, die in nahezu jedem biologischen Labor verfügbar sind, etwas „basteln“ ließe. Gesagt – getan, ein halbes Jahr später stand das Konzept, ein weiteres Jahr später war die Methode entwickelt und gebaut, die ersten Kurven entstanden. Dafür mussten diverse messtechnische Probleme erkannt, benannt und überwunden werden. Es schlossen sich unzählige Experimente zur Steigerung der Effektivität, Genauigkeit und Benutzerfreundlichkeit an. Ein weiteres Jahr später publizierte das Fachmagazin Physiological Reports einen Artikel zum Konzept und dem Aufbau des Geräts, das gleichzeitig bis zu 94 Blutproben analysieren kann. Zusätzlich wurde es von der Medizinischen Universität Innsbruck und Eurac Research im Rahmen eines internationalen PCT-Patentverfahrens angemeldet.

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Die Wärmekammer mit gasführendem Schlauchsystem und Steuerungseinheit - im rechten Bildbereich die Peristaltikpumpe, die für einen kontinuierlichen Gasfluss im Schlauchsystem sorgt.© Thomas Haller
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Die modifizierte 96well Mikrotitrierplatte im Plattenlese-Gerät, angeschlossen an das gasführende Schlauchsystem. Ein eigens entwickelter Deckel erlaubt das Eindringen der gasführenden Schläuche in das Plattenlese-Gerät während der Messung.© Thomas Haller
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Der experimentelle Aufbau: Plattenlese-Gerät, Wärmekammer mit Steuereinheit und Messgeräten, Peristaltikpumpe.© Thomas Haller
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Die speziell modifizierte 96-well Mikrotitrierplatte mit Gaseinlass und Gasauslass© Thomas Haller

Die neue Methode als Add-On zu einem herkömmlichen Plattenleser

Doch wie funktioniert das Gerät und was macht es so besonders? Ein Hauptmerkmal, das patentiert werden soll, ist der Grundbaustein des Ganzen: Eine Mikrotitrierplatte aus Kunststoff mit 96 Vertiefungen, eine so genannte 96-Well-Platte, die Teil der Standardausrüstung in jedem heutigen Biologielabor ist; die Platte wurde jedoch in diesem Fall so modifiziert, dass ein Gasdurchfluss möglich ist. Sie wurde mit Sensoren ausgestattet, die die Gaszusammensetzung fortlaufend messen können und somit steuerbar machen. Die Sensoren messen hierbei den Sauerstoffpartialdruck in dem System, in dem während der Messung der Sauerstoffanteil sukzessive reduziert wird. Eine angebaute „Kammer“ wärmt das Blut und alle weiteren Komponenten, wie beispielsweise das gasführende Schlauchsystem, konstant auf 37 °C – auf Körpertemperatur, oder wie für das Triple-H-Syndrom erforderlich in einem Temperaturbereich zwischen 13,7 bis 37 Grad Celsius. Die Messung selbst findet in den Vertiefungen der Platte statt: Winzige Blutstropfen werden zu einem Film ausgedünnt, wodurch der Gasaustausch mit den roten Blutkörperchen sehr rasch und effektiv erfolgt. Die Auslesung der Sauerstoffsensoren und die Bestimmung der O2-Sättigung von Hämoglobin erfolgt auf optischem Weg, über den Plattenleser, der die modifizierte 96-Well-Platte zur Analyse übernimmt. Neben dem Konzept der speziell modifizierten Platte ist auch der experimentelle Aufbau rund um das Gerät im Patentantrag eingeschlossen, sowie der Ablauf der Messung, also die Möglichkeit, viele Proben gleichzeitig unter wechselnden Sauerstoff- und Kohlendioxidverhältnissen fortlaufend zu analysieren.

Ein neues Forschungsfeld tut sich auf

Bei Intensivpatienten kann die Sauerstoffbindungskurve eine wichtige Rolle spielen. Doch „das Problem ist, dass niemand routinemäßig Bindungskurven messen, sondern allenfalls schätzen kann. Was nicht gemessen werden kann, kann auch therapeutisch nicht angegangen werden“, so Woyke, „wir versuchen, diese Lücke zu füllen.“ Intensivpatienten haben meist weniger Hämoglobin im Blut, der Sauerstoff wird schlechter und langsamer von der Lunge ins Blut und von dort ins Gewebe transportiert. „Wir vermuten, dass möglicherweise die Qualität des Sauerstofftransports beeinflusst werden kann – auch mithilfe von Medikamenten.“ so Woyke. Es müsste aber erst die Wirkung von Medikamenten auf den Verlauf der Sauerstoffbindungskurve untersucht werden. „Dafür braucht es noch jahrelange Grundlagenforschung, für die wir die Weichen gestellt haben“, schließt Woyke. Für Hermann Brugger, Simon Woyke und Thomas Haller schafft das neu entwickelte Gerät die Möglichkeit „für mindestens zehn Jahre wissenschaftlicher Forschung“. Denn nicht nur das Triple-H-Syndrom könne damit erstmals umfassend untersucht werden, auch bisher nicht erforschte krankhafte Veränderungen der Hämoglobin-Eigenschaften – genetisch oder medikamentös bedingt – könnten nun auf einfache Weise erkannt und untersucht werden.

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Wissenschaftliche Publikation

Unter dem folgenden Link finden Sie den frei zugänglichen Artikel "High-throughput determination of oxygen dissociation curves in a microplate reader — A novel, quantitative approach", publiziert im Fachmagazin Physiological Reports: https://doi.org/10.14814/phy2.14995

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