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„Meist sind die Betroffenen die eigentlichen Experten“

Gespräche zwischen Disziplinen: Der Wirtschaftsgeograf Thomas Streifender und die Juristin Eva Maria Moar im Interview.

by Barbara Baumgartner, Sigrid Hechensteiner

Aus Deutschland zugezogen, haben sie sich den beobachtenden Blick auf Südtirol bewahrt – der in ihrem Fall tief ins Getriebe der Gesellschaft reicht: Der Geograf und Regionalentwickler Thomas Streifeneder bezieht die Menschen in Tälern und Dörfern als Mitforschende ein, die Juristin und Forschungsmanagerin Eva Maria Moar ist nicht nur mit den Bestimmungen der Autonomie bestens vertraut, sondern auch mit Denkweisen in der Verwaltung. Beide arbeiten beständig an internationaler Vernetzung: weil sie inspiriert, motiviert und gegen Nabelschau immunisiert.

Herr Streifeneder, Sie arbeiten häufig mit Forschungspartnern aus Alpenregionen, die weniger gut dastehen als Südtirol: Viele Berggebiete leeren sich. Wie erklären Sie denen, warum es bei uns anders ist?

Thomas Streifeneder: Grundlegend ist die historisch bedingte große Wertschätzung für den ländlichen Raum, mit dem die deutschsprachige Bevölkerung sich stark identifiziert. Das hat sich früh in politischen Entscheidungen niedergeschlagen: Man hat erkannt, wie wichtig gute Anbindung ist, hat durch die vielen Gewerbegebiete dezentrale Arbeitsplätze geschaffen. Und dann ist natürlich der Tourismus eine Schlüsselbranche; das gilt für viele Alpengebiete, aber es gibt nur wenige Regionen in Europa mit so vielen und vielfältigen Angeboten von „Urlaub auf dem Bauernhof“. Mit den anderen Bergregionen gemeinsam haben wir aber die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen – demografischer Wandel, Klimaerwärmung, nachhaltiger Umgang mit Ressourcen usw. Deshalb ist die Zusammenarbeit in internationalen Forschungsprojekten extrem wichtig für den Erfahrungsaustausch und den Kontakt zu internationaler Expertise, sowie als Inspiration durch gelungene Beispiele in anderen Regionen. Südtirol profitiert in vielerlei Weise durch eine Beteiligung an internationalen Projekten.

Frau Moar, von den Forschungsmitteln, die Eurac Research aus Förderprogrammen und Fonds einwirbt – wieviel fließt da in die Regionalentwicklung?

Eva Maria Moar: Eine scharfe Trennlinie kann man da kaum ziehen: Auch regional finanzierte Forschung wirkt sich ja nicht immer ausschließlich in der Region aus, und nicht regionale Projekte bringen oft auch der Region einen Mehrwert – wenn etwa im Rahmen eines durch das Forschungsrahmenprogramm der EU finanzierten Großprojekts Sozialbauten in Bozen energetisch saniert werden. Für eine grobe Orientierung kann man aber nach Programmarten aufgliedern, und dann sah es 2021 so aus: Von insgesamt 143 laufenden Projekten, mit einem Gesamtförderbeitrag für Eurac Research von 40 Millionen Euro, wurden etwa die Hälfte durch regional verwaltete EU-Programme wie Interreg oder EFRE, Förderprogramme der Provinz und der Euregio finanziert, mit insgesamt 18,3 Millionen Euro. Etwa die Hälfte der Gelder ist also über „regionale“ Programme hereingekommen.

Welche Art regionale Forschung wird zur Zeit von der EU bevorzugt gefördert?

Moar: Für die nächsten sieben Jahre liegt ein starker inhaltlicher Schwerpunkte auf grüner und möglichst emissionsfreier Entwicklung, ein anderer ist das „vernetzte Europa“ – das betrifft Transport, Erreichbarkeit usw. Wichtig ist aber immer auch der soziale Aspekt, die gesellschaftliche Weiterentwicklung und „soziale Innovation“. Man fördert nicht mehr reine Infrastruktur, die praktisch unabhängig von der Bevölkerung gemacht wird: Einbeziehung ist ein zentrales Element. Die EU will sicherstellen, dass jene Menschen, denen Projektergebnisse zugutekommen sollen, auch von Anfang an involviert sind und den Prozess mitgestalten können. Das beginnt schon bei der Frage: Wofür braucht es überhaupt Lösungen? Dieser Anspruch, mit dem Schlagwort citizen science beschrieben, zieht sich jetzt durch alle Themenbereiche.

Bürgerinnen und Bürger sollen also Mitforschende sein?

Streifeneder: Unbedingt, bislang hatten sie viel zu wenig Einfluss in der Wissensgenerierung. Die Betroffenen sind ja meist die eigentlichen Experten, das sehen wir in unseren Reallabors und Workshops immer wieder – die Menschen vor Ort wissen genau, was funktionieren kann und was nicht, wo bei einem Vorhaben die Haken und Unschärfen liegen. Wir Wissenschaftler tragen die innovativen Methoden bei, den ganzheitlichen Blick. In den vergangenen Jahren haben wir sehr viele Erfahrungen mit solchen partizipativ ausgerichteten Projekten gemacht. Ob wir das Wissen von Bäuerinnen nutzen, um alte Kultursorten zu erhalten, gemeinsam mit lokalen Akteuren nachhaltige Kreislaufwirtschaftsprojekte entwickeln oder neue, gemeinwohlorientierte Nutzungsformen für Allmende-Flächen erarbeiten.

Moar: Damit verbunden ist dann auch die Akzeptanz: Die Forschungsergebnisse sollen ja umgesetzt und angewendet werden, und wenn man die Menschen ernsthaft am Prozess beteiligt, der zu den Ergebnissen führt, dann schafft man dafür natürlich viel bessere Voraussetzungen. Und da geht es nicht nur um die allgemeine Bevölkerung, sondern auch um all diejenigen, die in einem bestimmten Bereich Verantwortung tragen. Bei Eurac Research ist dieser Aspekt sehr präsent, denn wir arbeiten stark mit der Landesverwaltung zusammen, damit dann auf wissenschaftlicher Grundlage gute Entscheidungen für die Region getroffen werden können.

Sie kommen beide aus Deutschland. Herr Streifeneder, ist es für einen Regionalentwickler in Südtirol von Vor- oder Nachteil ein Zugezogener zu sein?

Streifeneder: Ich sehe es als Vorteil, mir den beobachtenden Blick auf Südtirol bewahrt zu haben, parallel immer auch die Entwicklungen in Deutschland zu verfolgen. Genauso wichtig ist aber das Insiderwissen, das wir durch die enge Zusammenarbeit mit den lokalen Akteuren bekommen. Es braucht beide Perspektiven.

© Eurac Research | Tiberio Sorvillo

"Im ländlichen Raum findet eine tiefgreifende Transformation statt."

Thomas Streifeneder

Sie sind ein großer Freund von Literatur. Welche Romane haben Ihr Verständnis für Südtirol vertieft?

Sreifeneder: Josef Zoderer, Francesca Melandri, Marco Balzano – sie und andere haben mir die Geschichte und Kultur nähergebracht, neue Blicke auf das komplexe Verhältnis der Sprachgruppen erschlossen. Aber auch in der Literatur aus anderen Alpenregionen findet man eindrücklich Fragen behandelt, die genauso für die Südtiroler Bergwelt Gültigkeit haben. Ein amüsant-schönes Beispiel ist „Der letzte Schnee“ des Schweizers Arno Camenisch: Die Gespräche zweier alternder Skiliftbetreiber angesichts ausbleibenden Schnees. Im Zuge des Klimawandels wird ja überall die Diskussion zu führen sein, welche Skigebiete noch tragbar sind, welche aufgegeben werden. Und da geht es dann eben nicht nur um Zahlen, sondern auch um die Psychologie der Menschen in einem Tal. Wie gehen sie mit den Veränderungen um? Wie denken und handeln sie? Diesen Teil der Realität kann die Wissenschaft nicht immer adäquat oder in allen Facetten abbilden. Viele sagen ja, die Zukunft liegt auf dem Land, weil es uns Nahrungsmittel und erneuerbare Energien liefert, Ökosystemleistungen; sicher ist, dass im ländlichen Raum eine tiefgreifende Transformation stattfindet, die zu beleuchten und zu vermitteln die Literatur ganz andere Möglichkeiten hat als eine Fachpublikation. Das interessiert mich sehr. Mit meiner Schweizer Kollegin Barbara Piatti, Kulturwissenschaftlerin und Literaturgeografin, haben wir deshalb ein Konzept entwickelt, rural criticism, mit dem wir beitragen wollen, dass solche Literatur, die für die Veränderungen im ländlichen Raum sensibilisiert und nicht nur Klischees reproduziert, ein größeres Publikum findet. Es geht also um das interdisziplinäre Thema Wissen(schaft) und Literatur.

Frau Moar, hat die Position der Zugezogenen sich in ihrer Arbeit in irgendeiner Weise ausgewirkt?

Moar: Als ich vor 22 Jahren nach Bozen kam, habe ich zuerst am Institut für Minderheitenrecht geforscht und mich intensiv mit der Südtiroler Autonomie befasst. Dadurch entwickelt man natürlich schnell ein Verständnis dafür, auf Grund welcher geschichtlicher und gesellschaftlicher Voraussetzungen manche Dinge sind, wie sie sind, manche Entscheidungen so und nicht anders getroffen werden. Trotz dieses Verständnisses, glaub ich, behält man jedoch eine distanziertere Perspektive. Ich bin dann aber bald ins Forschungsmanagement gewechselt, dieses Berufsbild hat sich damals gerade herauskristallisiert. Wir arbeiten da seit Langem und in sehr positiver Weise mit einem Netzwerk aus ganz Europa zusammen.

Wettbewerbsfähige Anträge auf Forschungsförderung auszuarbeiten scheint eine aufwendige Angelegenheit – bekommen Sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern viel Stöhnen zu hören?

Moar: Das Einwerben von Forschungsgeldern gehört zum Forscheralltag. Forschungsvorhaben gut zu beschreiben ist eine Arbeit, die den Forschenden niemand abnehmen kann. Wir unterstützen sie aber in den administrativen Dingen, soweit wir können. Und helfen ihnen, die Forschungsideen bestmöglich an die Ziele der Förderprogramme anzupassen, damit die Anträge bessere Erfolgschancen haben. Letztlich dient das Verfahren der Qualität, und so sehen es auch die meisten. Die Anforderungen Ändern sich eben mit der Zeit – heute müssen Forscherinnen und Forscher zum Beispiel auch gut im Kommunizieren sein. Für die Jungen ist das schon selbstverständlich.

Streifeneder: Für das Institut kann ich sagen: Es ist ein großer Aufwand, und die Unterstützung durch das Team vom Forschungsmanagement unschätzbar. Nicht nur was das Administrative anbelangt: Der kritische Austausch mit jemandem, der nicht so in den Themen drin steckt, ist immer fruchtbringend. Das Forschungsmanagement ist ein zentraler Faktor dafür, dass wir als wissenschaftliche Institution auf internationaler Ebene erfolgreich sein können.

Wird es für Forschungsvorhaben im vergleichsweise reichen Südtirol in Zukunft schwieriger sein, an Fördergelder zu kommen, weil eventuell nachhinkende Regionen Vorrang haben?

Moar: Bei den EU-weiten Programmen sehe ich da kein Problem, solange man gute Ideen hat und hohe Forschungsqualität liefert; die EU hat ein Interesse daran, dass die Partner in den Forschungskonsortien sehr vielfältig sind, auch geografisch vielfältig, damit möglichst viel Wissenstransfer stattfindet und möglichst viele EU-Länder von den Mitteln profitieren. Es gibt aber immer auch Förderprogramme, wo die Idee des Ausgleichs, also der Angleichung des Lebensstandards, eine Rolle spielt.

© Eurac Research | Tiberio Sorvillo

"In den vergangenen Jahren gab es im Bereich der Forschungsförderung in Südtirol eine sehr positive Entwicklung, eine Öffnung nach außen."

Eva Moar

Was macht Sie hoffnungsvoll für die Zukunft?

Moar: In den vergangenen Jahren gab es im Bereich der Forschungsförderung in Südtirol eine sehr positive Entwicklung, denn die Landesregierung hat Abkommen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Österreichischen Wissenschaftsfond und ebenso mit den entsprechenden Institutionen in Luxemburg und der Schweiz geschlossen, sodass nun gemeinsame Forschungsvorhaben finanziert werden. Mit dieser Vernetzung und Öffnung nach außen tun sich für Forscher und Forscherinnen ganz neue Kooperationsmöglichkeiten auf, Südtirol kann einen Forschungsbeitrag auch auf größerer Bühne leisten. Das stimmt mich sehr optimistisch.

Streifeneder: Ob man mich hoffnungsvoll nennen kann, weiß ich nicht, aber im Hinblick auf Klimaschutz wird man endlich ernst machen müssen: Angesichts der drohenden Katastrophe gibt es keinen Aufschub mehr. Auch hier lohnt ein Blick in ein Werk, das die Prozesse zwischen reaktionären und progressiven Interessengruppen erkundet. Die Dringlichkeit, vor allem politisch zu handeln, illustriert anschaulich und kenntnisreich „Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson. Und da ich gerade Karl Kraus lese – der großartige Aphoristiker hat geschrieben: „Die Wissenschaft überbrückt nicht die Abgründe des Denkens, sie steht bloß als Warnungstafel davor. Die Zuwiderhandelnden haben es sich selbst zuzuschreiben.“

Eva Maria Moar

Eva Maria Moar ist die Leiterin des Research Support Service von Eurac Research. Sie hat in München und Paris Jura studiert. Wenn sie sich nicht um rechtliche Aspekte der Forschungsprojekte kümmert, zaubert sie in der Küche, erkundet Europa oder entspannt bei einem Krimi.

Thomas Streifeneder

Thomas Streifeneder ist Wirtschaftsgeograf und leitet das Eurac Research Institut für Regionalentwicklung. Er forscht zu sozioökonomischen Transformationsprozessen im ländlichen Raum und interessiert sich besonders für deren Darstellung in literarischer Fiktion (https://www.rural-criticism.eu/). Urlaub verbringt er in der Regel auf Bauernhöfen. Wie bei der Literatur verbindet sich auch hier private Neigung mit beruflichem Interesse: 2018 organisierte er in Eurac Research den ersten Agrotourismus-Weltkongress.

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