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Brain-Drain - Brain-Gain

Südtirol im Wettbewerb um hochqualifizierte Talente

Hochqualifizierte und kreative Menschen machen ein Land wettbewerbsfähiger und innovativer. Regionen stehen in ihrem Bemühen, qualifizierte und hochqualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen, in Konkurrenz zueinander. Wie attraktiv ist Südtirol auf europäischer Ebene für sogenannte Talente? Welche Maßnahmen gibt es, um die Attraktivität zu erhöhen?

Hier gibt es das Dossier Brain-Drain - Brain-Gain zum Download als PDF.

Südtirol ist eine der wohlhabendsten Provinzen Italiens: Das Pro-Kopf-Einkommen ist höher als im italienischen Durchschnitt (rund 41.000 Euro pro Jahr gegenüber 35.000 Euro in Italien), die Arbeitslosenquote lag 2018 unter 3 Prozent gegenüber 10 Prozent in Italien, und die Geburtenrate ist die höchste in Italien (1,72 Kinder gegenüber einem nationalen Durchschnitt von 1,29 im Jahr 2018). All diese Faktoren tragen entscheidend dazu bei, dass Bozen italienweit als eine der Städte mit der höchsten Lebensqualität gilt.

Vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie beklagten die Unternehmen jedoch einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Sie hatten Schwierigkeiten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für bestimmte Stellen zu finden, welche folglich unbesetzt blieben. Die Situation mag paradox erscheinen, spiegelt aber durchaus Veränderungen wider, die sich in vielen Teilen unserer Gesellschaft und Wirtschaft bemerkbar machen und die den Arbeitsmarkt vielerorts beeinflussen.

Im Zuge der Pandemie gab es wiederum neue Entwicklungen, die auch für Südtirol relevant sein können. Vielfach wurde nicht mehr im Büro, sondern vom eigenen Zuhause aus gearbeitet, die Stadtzentren verloren gegenüber Vororten und ländlichen Gebieten an Attraktivität. Für viele wurde Home-Office zur neuen Normalität, die physische Präsenz auf ein Minimum reduziert oder es wurden hybride Modelle getestet. In der Konsequenz muss der Wohnort nicht in jedem Fall in der Nähe des Arbeitsortes liegen. Insbesondere für sogenannte „White-Collar Migrants“ tun sich neue Möglichkeiten auf. Darunter versteht man Arbeitskräfte, die vor allem am Schreibtisch tätig sind und aufgrund besserer Arbeitsmöglichkeiten ins Ausland gezogen sind. Familiäre und soziale Gründe, die Sehnsucht nach einem anderen Lebensstil und die Möglichkeiten des Smartworkings sind ausschlaggebend, dass diese Arbeitskräfte nun vermehrt an eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer denken.

Wer sind die hoch qualifizierten Arbeitskräfte, die so genannten Talente?

Mit dem Begriff ,,Talent“ werden mehrere Bedeutungen verbunden, die auf verschiedenen Faktoren beruhen, etwa dem Bildungsniveau oder bestimmten Fertigkeiten. Ein technisches Synonym für Talent ist beispielsweise „hochqualifizierte Arbeitskraft“. Als hochqualifizierte Arbeitskraft gilt, wer ein hohes Bildungsniveau hat oder über besondere theoretische oder praktische Kenntnisse verfügt. In diesem Sinn sind etwa Fachkräfte, Computerfachleute oder Handwerksmeisterinnen und -meister hochqualifiziert, auch wenn sie keinen Hochschulabschluss haben, denn sie verfügen über hohe Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich. Diese zweite Definition von Talenten ist viel schwieriger zu quantifizieren als erstere, weshalb häufig eine Definition auf Grundlage des Abschlusses verwendet wird. In Südtirol verfügten 2019 rund 17 Prozent der Erwerbstätigen über einen Hochschulabschluss; zur Einordnung der Arbeitnehmenden nach ihrem Spezialisierungsgrad gibt es keine spezifischen Daten. Das WIFO der Handelskammer verwendet daher den Begriff „Fachkräfte" für alle Personen im erwerbsfähigen Alter, mit Ausnahme der ungelernten Arbeitskräfte. Eine „talentierte“ oder hochqualifizierte Arbeitskraft verfügt über spezifische Kenntnisse und Qualifikationen in Verbindung mit sozialen und operativen Fähigkeiten.

Wie verändert sich der Arbeitsmarkt?


Der Arbeitsmarkt befindet sich in ständigem Wandel, nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung und der Klimakrise. Zwei Haupttrends stechen jedoch hervor: der demografische Wandel und die Digitalisierung.

Demografischer Wandel:
Urbanisierung, Migrationsbewegungen und ein Umdenken in Bezug auf die Rolle der Frau sind die treibenden Kräfte des demografischen Wandels, sowohl auf globaler als auch auf lokaler Ebene. Trotz der hohen Geburtenrate altert auch Südtirol: 2018 lag der Anteil der Erwerbstätigen über 50 Jahren bei 29,5 Prozent, während es im Jahr 2000 nur 11 Prozent waren. Der Anteil der über 50-Jährigen hat sich in weniger als 30 Jahren fast verdreifacht. Auch Frauen sind nun stärker am Südtiroler Arbeitsmarkt beteiligt. Zwischen 2000 und 2018 ist die Anzahl erwerbstätiger Frauen um 37 Prozent gestiegen, während die Zahl der erwerbstätigen Männer im gleichen Zeitraum nur um 18 Prozent zugenommen hat. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Menschen, die zwar ihren Wohnsitz in Südtirol, aber nicht die italienische Staatsbürgerschaft haben, verdreifacht: von etwas mehr als 16.000 im Jahr 2002 auf über 50.000 im Jahr 2017.

Digitalisierung:
Die Digitalisierung und der technologische Fortschritt bringen tiefgreifende Veränderungen mit sich. So sinkt die Nachfrage nach Arbeitskräften in einigen Sektoren, während sie in anderen steigt. In Südtirol macht sich dieses Phänomen noch nicht in größerem Ausmaß bemerkbar, was vor allem an den vorwiegend kleinstrukturierten Unternehmen liegt. Die Coronakrise hat jedoch die technologische Entwicklung in den Südtiroler Unternehmen beschleunigt, und es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend in Zukunft fortsetzen wird. Im Zeitraum von März bis Mai 2020 haben 20 Prozent der Südtiroler Unternehmen mit Remote-Arbeit experimentiert, vermehrt auf digitale Kommunikation oder Online-Verkäufe gesetzt. Technologie wird jedoch nicht in allen Sektoren gleichermaßen eingesetzt. So nehmen etwa größere Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten eine Vorreiter-Rolle in diesem Bereich ein.

In vielen westlichen Ländern haben Unternehmen Schwierigkeiten, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Umgekehrt haben hochqualifizierte Menschen Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Woher kommt dieses Ungleichgewicht?

Angebot und Nachfrage stimmen auf dem Arbeitsmarkt nicht immer überein, auch nicht in Bezug auf die Qualifikationen. Wenn Arbeitssuchende nicht über die Qualifikationen verfügen, die von Unternehmen gefordert werden, spricht man von einem „Skills Mismatch“. Meistens ist es sogar so, dass Arbeitssuchende über eine höhere Qualifikation verfügen, als von den Unternehmen benötigt würde. Besteht eine solche "vertikale Lücke", entsprechen die Gehaltsangebote der Unternehmen natürlich auch nicht den Erwartungen der Arbeitssuchenden. Geht es um unterschiedliche Qualifikationen, wird das als „horizontale Lücke“ bezeichnet. Darüber hinaus können einige Berufe aufgrund technischer Neuerungen obsolet werden. Dies ist etwa im IT-Bereich häufiger der Fall, wo Programmiersprachen ständig aktualisiert werden oder eine bestimmte Software zugunsten einer anderen eingestellt wird.

"45 Prozent der nach Südtirol Zugewanderten arbeiten im Dienstleistungssektor oder im Handel."

Gibt es das Phänomen des Skills Mismatch auch in Südtirol? In welcher Form und mit welchen Folgen?

Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass rund 30 Prozent der Unternehmen in Südtirol über einen Mangel an qualifiziertem Personal klagen. Dabei handelt es sich in erster Linie um Unternehmen im Hotel- und Gastgewerbe, in der Landwirtschaft, im Dienstleistungssektor und im Verkehrswesen: Fachleute in Elektronik, Mechanik und Mechatronik oder Personen mit besonderen Qualifikationen wie einer Berufskraftfahrerqualifikation oder Sprachkenntnissen wurden vergeblich gesucht. Dank Zuwanderung, sowohl aus anderen Regionen Italiens als auch aus dem Ausland, kann ein Teil der freien Stellen besetzt werden: 45 Prozent der nach Südtirol Zugewanderten arbeiten im Dienstleistungssektor oder im Handel, jedoch gibt es in dieser Gruppe auch einen höheren Anteil an ungelernten Arbeitskräften (wie zum Beispiel Reinigungskräfte, Küchenpersonal) als bei in der Region geborenen Personen. Auf der anderen Seite wandern vor allem Menschen mit einem Hochschulabschluss aus. Sie machen mehr als die Hälfte der Personen aus, die 2016 aus Südtirol weggezogen sind. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Personen im Alter von 25 bis 34 Jahren mit Abschlüssen in Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften, gefolgt von Naturwissenschaften, IT, sowie um Personen, die in Gesundheitswesen und Medizin tätig sind. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass in Südtirol eine vertikale Lücke besteht, da es wenige Stellen für Personen mit Hochschulabschluss zu geben scheint, aber auch eine horizontale Lücke, da es schwierig ist, Personal mit spezifischen technischen Fähigkeiten und Sprachkenntnissen zu finden.

"Urbane Zentren ziehen mehr Talente an als ländliche Regionen."

Welche Faktoren spielen bei der Wahl des Arbeitsplatzes eine Rolle?

Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt haben tiefgreifende Auswirkungen auf den Einzelnen, da sie auch die Wahl des Studiengangs und die berufliche Entwicklung beeinflussen. Das Forschungsteam des Center for Advanced Studies befragte 30 internationale Expertinnen und Experten aus den Sozial-, Rechts- und Geisteswissenschaften, dem Personalwesen und der Psychologie, welche Faktoren einen Arbeitsplatz für Talente attraktiv machen. Dieser Umfrage zufolge suchen qualifizierte Menschen nach innovativen und kreativen Arbeitsplätzen mit angemessener Bezahlung und flexiblen Arbeitszeiten, die es ermöglichen, Familie und Beruf zu vereinbaren.

Trotz des technologischen Fortschritts und Möglichkeiten des Remote Work, worauf auch im Zuge der Covid-19-Pandemie verstärkt gesetzt wurde, spielt die geografische Lage bei der Wahl des Arbeitsplatzes noch immer eine sehr wichtige Rolle, insbesondere für hochqualifizierte Personen. Fachleute sind sich einig, dass städtische Zentren mehr Talente anziehen als ländliche Gebiete. Dieser Aussage stimmen 78 Prozent der Expertinnen und Experten zu. Städte sind verkehrstechnisch gut angebunden und bieten eine breitere Palette an Dienstleistungen und Angeboten, im Bereich Kultur und Gesundheit ebenso wie bei Schulen und Universitäten. Die Möglichkeiten, sich zu treffen, sich auszutauschen sowie innovative Ideen zu entwickeln, sind in Städten vielfältiger.

Es ist kein Zufall, dass junge Südtirolerinnen und Südtiroler nach dem Schulabschluss in Städte in Deutschland, Österreich oder der Schweiz ziehen, um dort zu arbeiten. Ein Arbeitsplatz wird nicht nur um seiner selbst willen als interessant beurteilt, auch der Ort spielt eine wesentliche Rolle. Aus diesem Grund stehen die Regionen und Städte in ständigem Wettbewerb um die klügsten Köpfe, damit diese zum Wachstum der Regionen beitragen können.

Welche europäischen Regionen sind für hochqualifizierte Arbeitskräfte besonders attraktiv?

Laut dem „European Regions' Talent Competitiveness Index" (ERTCI) gilt London als die attraktivste Region Europas, gefolgt von der Region Île de France (Paris) und Oslo. Stockholm, Kopenhagen, Zürich und Helsinki gehören ebenfalls zu den zehn wettbewerbsfähigsten Regionen. Obwohl die EU versucht, Disparitäten zwischen den Mitgliedsstaaten zu verringern, besteht ein deutliches Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa, aber auch zwischen Ost und West. Nicht nur zwischen den Staaten, auch innerhalb der Länder gibt es Unterschiede: Hauptstädte sind attraktiver als andere Regionen (mit Ausnahme von Deutschland, der Schweiz und Belgien), was die Vorrangstellung der städtischen Regionen bestätigt. Insbesondere in den größeren Staaten sind die Unterschiede zwischen Regionen häufig sehr groß (dies ist der Fall im Vereinigten Königreich, Frankreich, Spanien, Griechenland und Rumänien).

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Ranking der europäischen Regionen bezüglich ihrer Position im Wettbewerb um Talente (Quelle: Kofler, Innerhofer, Marcher, Gruber, Pechlaner, 2020)

ERTCI – Der European Regions' Talent Competitiveness Index


Der ERTCI umfasst 15 Indikatoren, die in fünf Säulen unterteilt sind und verschiedene Aspekte der Attraktivität europäischer Regionen für qualifizierte Arbeitskräfte messen. Dazu gehören zum Beispiel die wirtschaftliche Lage, Lebensqualität, Erreichbarkeit, das Bildungsniveau und die Lebenshaltungskosten. Die Säulen mit den Bezeichnungen Activate, Attract, Grow, Retain und Be Global basieren auf der Struktur des Global City Talent Competitiveness Index (GCTCI), der entwickelt wurde, um die Attraktivität von Städten für Talente auf globaler Ebene zu messen. Die hier verwendete Definition von Talent bezieht sich auf Personen mit einem Hochschulabschluss. Die Daten auf regionaler Ebene wurden vom Forschungsteam von Eurac Research zwischen April und Mai 2019 aus verschiedenen Quellen zusammengetragen: Eurostat, dem OECD Regional Wellbeing Index, einigen öffentlichen Rankings (Times Higher Education World University Ranking, Numbeo, Forbes Global 2000) sowie nationalen Statistikämtern. Die endgültige Punktzahl ergibt sich aus dem Durchschnitt der in den fünf Säulen erzielten Werte: je höher der Wert, desto attraktiver ist eine Region für Talente.

Wie ist Südtirol in Italien und Europa positioniert?

Da der ERTCI-Index auf einem ursprünglich für städtische Zentren entwickelten Attraktivitätskonzept beruht, bewertet er ländliche Gebiete wie Südtirol prinzipiell schlechter. Wie aus der Karte hervorgeht, gehört Südtirol zu den Regionen, die in Bezug auf die Attraktivität für Fachkräfte am schlechtesten abschneiden: Es liegt auf Platz 216 von insgesamt 282 Regionen. Auf italienischer Ebene liegt es zwischen dem Aostatal und Umbrien auf Platz 13. Die Regionen mit den höchsten Punktezahlen sind Latium mit der Hauptstadt Rom, Lombardei (Mailand) und Emilia-Romagna (Bologna). Südtirol kann in der Tat nicht mit den großen europäischen Hauptstädten oder anderen stark urbanisierten Regionen Italiens konkurrieren, was die Beschäftigungsmöglichkeiten für Hochschulabsolventen, das Bildungsniveau und die Erreichbarkeit betrifft. Die Gründe für die Abwanderung von Personen, die in Südtirol geboren und aufgewachsen sind, sind vor allem der Mangel an interessanten Arbeitsangeboten entsprechend ihrer Qualifikation, die geringen Karrieremöglichkeiten sowie die im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten niedrigeren Löhne.

"Südtirol ist weniger attraktiv als das Trentino und Tirol."

Wie schneidet Südtirol im Vergleich zu seinen Nachbarregionen ab?

Interessant ist es, Südtirol mit seinen Nachbarregionen (Tirol und Trentino) sowie mit der Region Oberbayern (München) zu vergleichen. Die Regionen der Euregio sind recht nahe beieinander positioniert, Oberbayern als zehntgrößte Region Europas hebt sich dagegen deutlich ab. Südtirol ist allerdings weniger attraktiv als seine Nachbarregionen Trentino und Tirol, die in der Rangliste auf Platz 185 bzw. Platz 122 rangieren. Vor allem was die Präsenz multinationaler Unternehmen und die Innovationsausgaben betrifft, liegt Südtirol zurück. Die Innovationsausgaben in Südtirol belaufen sich auf 0,75 Prozent des BIP, verglichen mit 1,8 Prozent im Trentino, 3,1 Prozent in Tirol und 4,3 Prozent in Oberbayern. Auch in Bezug auf tertiäre Bildung, hinkt Südtirol hinterher. Die noch relativ junge Universität, die Freie Universität Bozen, mit rund 4.000 Studierenden und fünf Fakultäten, kann hier im Nachbarschaftsvergleich kaum ausgleichen. Viele junge Menschen entscheiden sich für ein Studium in den benachbarten Regionen und Bundesländern, wo die Universitäten eine größere Auswahl an Studiengängen anbieten. In Bozen waren 2018/2019 nur 34 Prozent der Südtiroler Studierenden eingeschrieben. Insbesondere die Zahl der Studierenden mit Wohnsitz in Südtirol, die an österreichischen Universitäten eingeschrieben sind, hat in den letzten zehn Jahren auf Kosten der italienischen Universitäten stetig zugenommen und lag im Studienjahr 2018/2019 bei 54 Prozent der Gesamteinschreibungen.

"Die hohe Qualität der öffentlichen Dienstleistungen und die vielen Freizeitmöglichkeiten werden als gute Gründe für einen berufsbedingten Umzug nach Südtirol genannt."

Warum ist es eine gute Idee, eine Arbeit in Südtirol anzunehmen?

Trotz genannter Wettbewerbsnachteile kann Südtirol durchaus für qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv sein. Ein genauerer Blick auf den ERTCI-Index zeigt, dass die Region in zweierlei Hinsicht ein besonders attraktives Ziel ist, nämlich was die Lebensqualität und wirtschaftliche Lage anbelangt. Laut Index gehört Südtirol zu den europäischen Spitzenregionen in Bezug auf Lebenserwartung und Sicherheit. Darüber hinaus nennen Menschen, die aus geschäftlichen Gründen in die Region gekommen sind, die hohe Qualität der öffentlichen Dienstleistungen (52 %) und die Freizeitmöglichkeiten (53 %) als gute Gründe, nach Südtirol zu ziehen. Südtirol hat eines der höchsten Bruttoinlandsprodukte pro Kopf in Europa und liegt hier gleichauf mit einigen deutschen und britischen Regionen. Dies ist zweifellos ein entscheidender Faktor für Migrationsströme. Der Index stuft die Region aufgrund der wenigen multinationalen Unternehmen in Bezug auf den unternehmerischen Aspekt zwar sehr niedrig ein, doch die Größe der Unternehmen nimmt auch in Südtirol langsam zu, und das 2017 in Bozen eröffnete Technologiezentrum NOI Techpark könnte in Zukunft Innovations- und Entwicklungsprozesse der lokalen kleinen und mittleren Unternehmen verstärkt antreiben. Werden die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen, bedeutet die geografische Lage Südtirols also nicht unbedingt ein Hindernis, wenn es darum geht, neue Arbeitskräfte anzuziehen oder diejenigen, die hier verwurzelt sind, in der Provinz zu halten.

Was kann Südtirol von anderen Regionen lernen?

Der Vergleich der Ergebnisse Südtirols mit jenen der Nachbarregionen zeigt, dass in den Bereichen Dienstleistungen, Infrastruktur, Wohnen und Arbeitsqualität noch einiges an strategischer Arbeit gefragt ist. Die Erreichbarkeit der Region mittels Straßen- Bahn- und Flugverkehr ist einer der Schlüsselfaktoren, um qualifizierte Arbeitskräfte anzuziehen. Hinzu kommt, dass die Region zwar recht wohlhabend ist, das Lohnniveau aber oft nicht mit den Lebenshaltungskosten übereinstimmt, insbesondere, was das Wohnen betrifft. Um dieses Problem zu lösen, könnten die Unternehmen – nicht nur die des Hotel- und Gastgewerbes – zuziehenden Arbeitskräften zumindest für die erste Zeit eine Unterkunft anbieten. Für die Attraktivität von zentraler Bedeutung ist natürlich auch das Angebot an Arbeitsstellen: Die Unternehmen sollten daher mehr in Innovation investieren und die Zusammenarbeit zwischen kleinen und mittleren Unternehmen sowie zwischen Unternehmen und Forschungszentren sollte erleichtert werden. Es gilt, Weiterbildungsmöglichkeiten und flexible Arbeitszeiten anzubieten und die Mehrsprachigkeit der Region zu nutzen, um auch Fachkräfte aus anderen Ländern anzuziehen. Beispiel ist hier etwa die Schweiz, die mit ihren drei Amtssprachen und günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weltweit das attraktivste Land für qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland ist. Diese Maßnahmen könnten, sofern sie mit steuerlichen Anreizen kombiniert werden, wie sie auf italienischer Ebene für den „Brain-Gain“ vorgesehen sind, dazu beitragen, der Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte entgegenzuwirken.

Das Forschungsprojekt


Dieses Dossier fasst die wichtigsten Ergebnisse des Buches "The Future of High Skilled Workers: Regional Problems and Global Challenges“ zusammen, das von Ingrid Kofler, Elisa Innerhofer, Anja Marcher, Mirjam Gruber, Harald Pechlaner in Zusammenarbeit mit Valeria Ferraretto verfasst und von Palgrave Macmillan veröffentlicht wurde. Das Buch entstand aus einem Projekt der Forschungsgruppe des Center for Advanced Studies von Eurac Research in Zusammenarbeit mit dem WIFO (Institut für Wirtschaftsforschung) der Handelskammer Bozen und der Abteilung Arbeit und Wirtschaft der Autonomen Provinz Bozen - Südtirol und geht auf eine Initiative von IDM Südtirol zurück.

Gibt es Initiativen, um Talente anzuziehen und zu halten?

Die Südtiroler Wirtschaft und Politik sind gleichermaßen daran interessiert, dem Skills Mismatch und Brain-Drain entgegenzuwirken. Mögliche Maßnahmen im Wettbewerb um hochqualifizierte Arbeitskräfte:

  1. Bildungswege durch eine mehrsprachige Schule erweitern, die Lehre als Abendschule und mehr Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten.
  2. Den engen Kontakt zu Unternehmen bereits während der Ausbildung fördern, sowie Plattformen schaffen, um Bedarf und Nachfrage abzugleichen.
  3. Durch flächendeckende und flexible Kinder- und Seniorenbetreuung, ganzjährig und alle Altersstufen umfassend, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Neue Arbeits- und Teilzeitmodelle sowie eine höhere Frauenerwerbsquote fördern.
  4. In Unternehmen den Themen Personalmanagement und Personalentwicklung, etwa durch interne Aus- und Weiterbildung oder flexible Arbeitszeitmodelle, einen höheren Stellenwert geben.
  5. Die Sichtbarkeit Südtirols durch gezieltes Marketing im In- und Ausland erhöhen.
  6. Den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum verbessern.

    Die Region muss eine Strategie entwickeln, um nicht nur die verbleibenden freien Stellen zu besetzen, sondern auch Arbeitslose umzuschulen, sowie die Wirtschaft zu diversifizieren und zunehmend attraktive Arbeitsplätze in der Industrie und im Dienstleistungssektor zu schaffen.

Autorinnen: Valeria Ferraretto, Mirjam Gruber, Ingrid Kofler
Projektteam: Ingrid Kofler, Elisa Innerhofer, Mirjam Gruber, Harald Pechlaner, Anja Marcher, Valeria Ferraretto
Center for Advanced Studies 
Redaktion: Valentina Bergonzi, Barbara Baumgartner
Übersetzung: Valeria von Miller
Grafik: Alessandra Stefanut
Illustration: Oscar Diodoro

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