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"Einen Baum, den man mit Opa oder Oma gepflanzt hat, reißt man nicht so einfach wieder heraus"

Lebendiges Kulturerbe - Inspiration für eine zukunftsfähige Lebensweise

© Ricarda Schmidt
by Laura Defranceschi

Eine der letzten drei Handwebereien in der Schweiz, die kurz vor dem Aus steht, rafft sich noch einmal auf, überarbeitet ihr Sortiment und ihr Marketing und schafft es schlussendlich, im von Abwanderung geprägten Val Müstair den Menschen mit qualitätsvollen Arbeitsplätzen wieder eine Perspektive zu bieten. Das ist nur eines von 25 Beispielen für lebendiges Kulturerbe, die ein Forschungsteam unter der Leitung von Eurac Research im italienisch-schweizerischen Grenzgebiet erfasst hat.

Für die Leute selbst, die jahrhundertealtes Wissen und überlieferte Praktiken erhalten und weitergeben, ist es teilweise „einfach nur“ Teil ihres Alltags, wie Ricarda Schmidt von Eurac Research, die Leiterin des Projekts erzählt. „Es hat bislang noch niemand zu ihnen gesagt, dass das, was sie tun, ein lebendiges kulturelles Erbe ist, an dessen Bewahrung und Weitergabe ein gesamtgesellschaftliches Interesse besteht oder bestehen sollte“, so Schmidt. Hier setzt das Projekt an: Eine Wanderausstellung, die 26 der im Projekt erfassten „Hüter der Vielfalt“ porträtiert und im Vinschgau und in der Schweiz zu sehen war (bis 16. Dezember 2022 noch in Bozen), hat das lebendige Kulturerbe der Region sichtbar gemacht und eine Grundlage für regen Austausch und die Wertschätzung des überlieferten Wissens, der Bräuche und Praktiken geschaffen.

In der Handweberei „Tessanda“ im Val Müstair wird auf teils über 100-jährigen Webstühlen handgewebt.© Tessanda

Es hat bislang noch niemand zu den Leuten gesagt, dass das, was sie tun, ein lebendiges kulturelles Erbe ist, an dessen Bewahrung und Weitergabe ein gesamtgesellschaftliches Interesse besteht oder bestehen sollte.

Ricarda Schmidt, Eurac Research

Am Beispiel der Palabirne begleitete die Forscherin im Rahmen des Projekts einen ganzen Entwicklungsprozess, der neue Perspektiven schaffen soll – gemeinsam mit unterschiedlichen Interessengruppen: dem Palabirnkomitee, der Bürgergenossenschaft Obervinschgau, Baumbesitzern, Bäckereien, Schnapsbrennereien, Vermarktern und Verarbeitern. Denn der Fortbestand der alten und für den Vinschgau so charakteristischen Birnensorte ist dadurch gefährdet, dass der aktuelle Baumbestand stark überaltert ist und kaum neue Bäume gepflanzt wurden. Der Grund dafür ist, dass die Pflege des Baumes aufwändig ist – er muss regelmäßig geschnitten werden, was mit erheblichen Kosten verbunden ist. Die jährliche Ernte ist ebenfalls schwierig und meist nur mit einer Hebebühne zu bewältigen, da die Palabirnbäume bis zu 20 Meter hoch sind. Hinzu kommt, dass die Birne selbst nicht lange halt- und lagerbar ist. Dennoch können sich viele Obervinschgerinnen und Obervinschger einen Vinschgau ohne Palabirnbäume nicht vorstellen.

Im regen Austausch, der auch über die Grenzen des Vinschgau in die Schweiz und bis nach Deutschland geführt wurde, wurden neue Ideen entwickelt. Im Ergebnis soll nun eine Baumschule auf einem Gelände zwischen Glurns und Lichtenberg eingerichtet werden, wo hundert Palabirn-Setzlinge – Stecklinge aus alten Bäumen – neu aufgezogen werden. In Bezug auf die alte Tradition, nach der anlässlich der Geburt eines Kindes ein Palabirnbaum gepflanzt wurde, sollen die Bäume dann an Großeltern und ihre Enkel abgegeben werden. „Die emotionale Komponente ist wichtig. Denn einen Baum, den man mit seinem Opa oder seiner Oma gepflanzt hat, reißt man nicht so einfach wieder heraus“, unterstreicht Schmidt. „Der Wert dieser Birne ist sehr viel mehr als nur ein monetärer, die Palabirne hat mit lokaler Identität und dem Alleinstellungsmerkmal einer Region zu tun – und als solche hat sie genau wie alle anderen Beispiele von lebendigem Kulturerbe ein enormes Potential, was wir mit diesem Projekt deutlich machen wollten.“

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Zum Projekt „Living Intangible Cultural Heritage“ (LivingICH)

Projektpartner im Interreg Italien-Schweiz-Projekt „Living Intangible Cultural Heritage“ sind neben Eurac Research (Projektleitung) die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.

Die Ausstellung „Hüter der Vielfalt“ kann noch bis 16. Dezember 2022 im Forschungszentrum Eurac Research in der Drususallee 1 in Bozen besucht werden.

Porträts und Interviews mit den „Hütern der Vielfalt“ finden sich auch online unter dem folgenden Link: https://www.eurac.edu/de/blogs/tags/hueter-der-vielfalt

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