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„Wir haben eine Bringschuld“

Gespräche zwischen Disziplinen: Der Jurist Marc Röggla und der Asienexperte Günther Cologna im Interview.

Die deutsche und die ladinische Sprachgruppe in Südtirol gehören zu den bestgeschützten Minderheiten der Welt. Weniger Privilegierten unsere Erfahrungen weiterzugeben, ist deshalb moralische Verpflichtung, erklärt der Jurist und Autonomieforscher Marc Röggla. Günther Cologna, Asienexperte und Leiter des Bereichs Education & Training, hat sich besonders mit der Lage einer unterdrückten Minderheit befasst, jener der Tibeter in dem von China besetzten Tibet. Beide sagen: In Europa wie auf der ganzen Welt waren die Zeiten für Minderheiten schon mal besser.

Herr Cologna, Sie beschäftigen sich seit Langem mit Tibet, haben den Dalai Lama kennengelernt, sogar zwei seiner Bücher ins Deutsche übersetzt: Wie ist es dazu gekommen?

Günther Cologna: Das erste Mal gesehen habe ich den Dalai Lama 1988 bei einer großen Veranstaltung in Zürich, als einer von Tausenden im Publikum. Ein paar Monate später machte ich dann eine lange Indienreise, auf der ich auch nach Dharamsala kam: Dort nahm ich mit einer kleinen Gruppe an einer Audienz teil. Eine schöne Erfahrung. Aber noch mehr berührt hat mich, zu erleben, was er den Menschen in Tibet bedeutet. Von Indien reiste ich nämlich nach Lhasa weiter, und wenn ich dort von meiner Begegnung mit dem Dalai Lama erzählte, fassten die Leute mich an, als hofften sie, dadurch könnte etwas von seiner Aura auf sie übergehen. Man spürte, wie sehr sie sich nach ihm sehnten. Ich hatte Bilder von ihm eingeschmuggelt, obwohl es verboten war, das würde ich mich heute nicht mehr trauen. Die Menschen sind in Tränen ausgebrochen.

Und wie ergab es sich, dass Sie sein Buch „Freedom in Exile“ ins Deutsche übersetzten?

Cologna: Das kam ganz unerwartet. Als der Dalai Lama den Friedensnobelpreis erhielt, schrieb ich für die Tageszeitung Dolomiten einen langen Artikel über ihn und die Situation in Tibet; den hat jemand bei seinem deutschen Verlag gesehen und man fragte mich, ob ich seine zweite Autobiografie übersetzen wollte – „Das Buch der Freiheit“ lautet der deutsche Titel. Ich war mitten in der Arbeit, da kam der Dalai Lama nach Mailand. Natürlich fuhr ich hin. Und bei seinem Vortrag dort fiel mir etwas auf: Wenn der Dalai Lama redete, brachte er jene, die ihn auf Englisch verstanden, oft zum Lachen; bei der Simultanübersetzung ins Italienische lachte niemand – der Witz war weg. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. Ich achtete danach sehr darauf, dass beim Übersetzen der besondere Humor des Dalai Lama nicht verloren ging.

Credit: Eurac Research | Tiberio Sorvillo

"Durch die neuen Technologien ist die Überwachung in Tibet viel stärker geworden. Es gibt praktisch keine Freiräume mehr."

Günther Cologna

2016 waren Sie wieder in Tibet – welche Veränderungen sahen Sie?

Cologna: Zum einen war Lhasas Stadtbild total verwandelt: 1988 gab es dort nur für ein paar Stunden am Tag Strom, jetzt stehen überall Hochhäuser, es gibt breite Straßen mit viel Verkehr. An diesem wirtschaftlichen Aufschwung haben die Tibeter aber nicht Teil, sie sind marginalisiert. Es kommen immer mehr Chinesen ins Land – in ihren Augen sind die Tibeter minderwertig, und sie lassen sie das auch spüren. Vor allem hat die Repression zugenommen. Die Polizeipräsenz war bei meiner letzten Reise ganz massiv, man konnte keine 100 Kilometer über Land fahren, ohne kontrolliert zu werden. Durch das Internet und die neuen Technologien ist die Überwachung viel stärker geworden. Überall sind Webcams, auch in den Taxis. Es gibt praktisch keine Freiräume mehr. Niemand kann fliehen. Die Chinesen warten darauf, dass der Dalai Lama stirbt, und hoffen, dass dann eine Krise die tibetische Gemeinschaft spaltet und sie sie manipulieren können. Es besteht keinerlei Bereitschaft zum Dialog.

In den 1990er Jahren jedoch schien es nicht unrealistisch, dass Tibet eine Autonomie nach Südtiroler Muster erhalten könnte: Eurac Research hat damals die tibetische Exilregierung auch konkret in diesem Sinn beraten.

Cologna: Ja, das war die Zeit nach dem Mauerfall – historisch und psychologisch ein ganz besonderer Moment. Damals schien vieles möglich, es herrschte Aufbruchstimmung, Optimismus. In Südafrika wurde Nelson Mandela Präsident! Man dachte, nun sei auch die Zeit für Tibet gekommen. Es gab Sympathiebekundungen von allen Seiten, Hollywood hatte das Thema Tibet entdeckt, der Dalai Lama wurde von Regierungen weltweit empfangen. Zwanzig Jahre später war China wirtschaftlich so mächtig geworden, dass kaum jemand mehr Kritik wagte. Obama lud den Dalai Lama zwar ein, aber er wurde durch eine Nebentür ins Weiße Haus gelassen. Inzwischen ist die Haltung China gegenüber wieder kritischer geworden, doch diese Hoffnung, wie man sie in den 1990er Jahren spürte: Das ist vorbei.

Marc Röggla: Auch in Europa waren die 1990er Jahre das goldene Zeitalter für Minderheiten. Heute sind wir in einer ganz anderen Situation. Die Minority-SafePack-Initiative, mit der über eine Million Menschen in der EU gesetzliche Regelungen zum Schutz der nationalen und sprachlichen Minderheiten forderten, wurde von der EU-Kommission im Grunde einfach vom Tisch gewischt. United in Diversity ist ein netter Slogan, aber konkret passiert in der EU in dieser Richtung nicht viel. In vielen Staaten auf der ganzen Welt werden Minderheiten unterdrückt, was gerade in autokratischen Regimes oft zu gewaltsamen Konflikten führt. Als eine der weltweit bestgeschützten Minderheiten haben wir in Südtirol deshalb auch eine Art Bringschuld, unsere Erfahrungen weiterzugeben, damit andere sie sich zunutze machen können. Die positiven wie die negativen, ganz transparent: was hat funktioniert, was hat nicht funktioniert. Der Fall Südtirol zeigt einen Weg auf, wie es ohne Gewalt gehen kann; einen Plan B. Wir sind ein positives Modell für die Lösung von Minderheitenkonflikten.

Lässt sich so ein Modell exportieren?

Röggla: Natürlich nicht eins zu eins. Das sagen wir deutlich auch den Delegationen, die aus Minderheitenregionen zu uns ins Center for Autonomy Experience kommen – manchmal mit der Erwartung, hier etwas zu finden, das sie dann zu Hause einfach umsetzen können. Diese Vorstellung ist fern von jeglicher Realität. Was wir aber anbieten können, ist wertvolles Wissen. Eurac Research hat in den vergangenen 30 Jahren sehr viel Know-How auf diesem Gebiet aufgebaut; es gibt wahrscheinlich keine Institution in Europa, die so konzentriert und mit so vielen Ressourcen zu Fragen des Minderheitenrechts, des Föderalismus und der Mehrsprachigkeit forscht. Wir haben da wirklich etwas, das wir weitergeben können.

Das Center for Autonomy Experience erklärt die Südtirol Autonomie aber nicht nur Delegationen aus aller Welt, sondern auch jungen Menschen hierzulande.

Röggla: Das ist ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit: ein Grundverständnis zu vermitteln über ein Thema, das für unser Land so große Bedeutung hat. Denn obwohl die Autonomie in Südtirol bei allem mitschwingt, ist sie für die Menschen nicht allgegenwärtig. Verständlicherweise: Solange die Dinge funktionieren, ist für die Leute zweitranging, dass die Basis dafür die Autonomie ist. Und die Generation, die den Kampf für Minderheitenschutz und Autonomie noch miterlebt hat, stirbt langsam weg; wer schon in einem autonomen Südtirol aufgewachsen ist, kennt nichts anderes – mühsam errungene Rechte sind einfach Normalität. Und wenn etwas normal ist, widmet man ihm häufig nicht mehr viel Aufmerksamkeit.

Credit: Eurac Research | Tiberio Sorvillo

"Es wäre an der Zeit, an einigen Schrauben des Statuts zu drehen."

Marc Röggla

Also ist es eigentlich ein Kompliment an die Autonomie, dass man sich nicht mit ihr befasst?

Röggla: Man sollte sich aber mit ihr befassen. Denn obwohl das Autonomiestatut soweit gut funktioniert, wird es mit dem Alter doch langsam rostig; es wäre an der Zeit, an einigen Schrauben zu drehen, über einige Themen neu nachzudenken. So verwässert etwa die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs die Kompetenzen des Landes; auch kommt das Wort Europa im Statut nicht vor, ebenso wenig spielt grenzüberschreitende Zusammenarbeit eine Rolle, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Aber es ist schwierig, den politischen Willen für diese Feinarbeit zu finden, weil im Moment niemand groß die Notwendigkeit von Änderungen sieht. Und wenn wir nach Österreich schauen, also auf unsere Schutzmacht: Auch dort gab es im Verwaltungsapparat einen Generationswechsel und es herrscht nicht mehr die gleiche Sensibilität Südtirol gegenüber wie in früheren Jahren. Das Thema Autonomie rückt also aus mehreren Gründen in den Hintergrund; das ist ein schleichender Prozess, den man im Auge behalten sollte.

Cologna: Das möchte ich unterstreichen: Es ist immens wichtig, Erfahrungen und Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben. Sonst verlieren wir das Bewusstsein für die Privilegien, die wir dank der Autonomie haben. Wenn diese Wertschätzung verloren geht, besteht die Gefahr, dass unsere Rechte irgendwann beschnitten werden – und die Menschen nicht einmal merken, was sie verloren haben.

Wie schwierig ist es, Schulklassen für das Thema Autonomie zu begeistern, Herr Röggla?

Röggla: Gar nicht schwierig: Die Schülerinnen und Schüler diskutieren meistens sehr interessiert über die Autonomie, denn sie wissen, dass sie eng mit ihrem Leben zusammenhängt. Aber andere Themen sind der Jugend heute eben wichtiger. Das bedeutet ganz und gar nicht, dass die Jugend unpolitisch ist, wie die ältere Generation gern behauptet – sie ist sogar außerordentlich engagiert, schauen wir nur die Bewegung „Fridays for Future“ an. Und beim Klimaschutz kommt ja auch wieder die Autonomie ins Spiel: Südtirol könnte mit gutem Beispiel vorangehen, weil die Provinz in bestimmten Bereichen primäre Kompetenzen hat.

Indem sie sich für Klimaschutz engagiert, entdeckt die Jugend also womöglich das Thema Autonomie für sich, nach dem Motto: Südtirol hat die Kompetenzen, also soll die Politik sie auch nutzen?

Röggla: Genau. Jede Generation hat nun einmal ihre eigenen Aufgaben und Wünsche. Deshalb kann man auch nicht erwarten, dass die Jugend heute für die Autonomie in der gleichen Weise empfindet wie jene Generation, die sie erkämpft hat. Neulich hat mich ein Gymnasiast nach einem Vortrag gefragt: Wozu brauchen wir denn noch Minderheitenschutz? Die Welt wird sowieso immer einheitlicher, Englisch ist Lingua franca.

Was haben Sie geantwortet?

Röggla: Dass Vielfalt an sich schützenswert ist, weil unsere Eigenarten die Welt ausmachen. Ich bin mir bewusst, dass man in 500 oder 1000 Jahren wahrscheinlich nicht mehr über Autonomie spricht: Letztlich sind Minderheitenrechte Menschenrechte, und das Ziel sollte sein, dass alle die gleichen Rechte haben. Die Entwicklung geht aber leider eher in die Gegenrichtung: Minderheiten sterben aus. Jeden Tag sterben Sprachen aus.

Herr Cologna, seit den Anfängen von Eurac Research befassen Sie sich mit Weiterbildung und lebenslangem Lernen: Wie war in diesem Bereich über die Jahrzehnte die Entwicklung?

Cologna: Da ist in zwei Jahren mehr passiert als in den zwanzig Jahren davor, die Pandemie hat eine Revolution bewirkt. Es war nötig, in kürzester Zeit auf Online-Kurse und E-Learning-Programme umzustellen, und das führte zu einem großen Innovationsschub. Die technischen Möglichkeiten haben sich enorm verbessert. Und wir merken jetzt, dass Online-Angebote keine Übergangslösung waren, sondern uns weiter begleiten werden. Als wir vor ein paar Wochen die nächsten Kurse für Südtirols Gemeindesekretäre planten, bat man uns, so viel wie möglich online anzubieten.

Also ist die Zeit der Seminare in Präsenz vorbei?

Cologna: So weit würde ich nicht gehen. Manche Lernerfahrungen kann man nicht wirklich reproduzieren. Wenn Menschen vor dem Monitor sitzen, springt der Funke oft nicht richtig über. Interaktion ist schwierig: Dass ein Online-Rhetorikkurs große Resultate bringt, kann ich mir beispielsweise schwer vorstellen. Wissensvermittlung aber funktioniert online sehr gut, und da eröffnen sich uns ganz neue Möglichkeiten. Gemeinsam mit dem Institut für Erneuerbare Energien bieten wir zum Beispiel einen Kurs zu Fassadentechnik an, sechs Module im Lauf von neun Monaten. Nach drei Ausgaben in Präsenz mussten wir 2020 auf online umschwenken – und jetzt haben wir sogar Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Südkorea. Wir können also einen viel größeren Kreis von Interessenten erreichen. Und ein noch viel wichtigeres Argument: der CO2-Fußabdruck. Wenn 30 Gemeindesekretäre zu Hause am Bildschirm bleiben, anstatt aus allen Ecken Südtirols nach Bozen zu fahren, spart das viele Emissionen. Also in Zukunft wird man auch wegen des Klimaschutzes wo möglich und sinnvoll auf online umsteigen.

Wenn wir in die Zukunft der Autonomie schauen: Südtirols Gesellschaft wird immer vielfältiger und komplexer, zu den alten Minderheiten sind neue gekommen – wird sich auch das Statut verändern müssen?

Cologna: Zwangsläufig. Das Autonomiestatut reflektiert die Situation der Nachkriegszeit und wurde geschaffen, um die deutsche und ladinische Sprachgruppe zu schützen. Damals sind Menschen aus Südtirol ausgewandert, heute kommen Menschen aus aller Welt zu uns. Ein System, das geschaffen wurde, um die Macht- und Budgetverteilung zwischen den drei Sprachgruppen zu regeln, stößt da an seine Grenzen.

Röggla: Das ist eine der Baustellen, die in Bezug auf die Autonomie anzugehen wären: Wie man dem demografischen Wandel durch Migration gerecht werden kann, ohne die bestehenden Sprachgruppenrechte einzuschränken. Wobei dieses Denken in Definitionen – alte, autochthone, traditionelle Minderheiten versus neue Minderheiten oder „Menschen mit Migrationshintergrund“ – eine sehr eurozentrische Sichtweise ist, die in den USA zum Beispiel durch Bewegungen wie Black Lives Matter aufgebrochen wird. Wie schon gesagt: Minderheitenrechte sind grundsätzlich Menschenrechte. Ziel muss eine möglichst gerechte Gesellschaft sein, in der alle Bevölkerungsgruppen am öffentlichen Leben teilhaben und alle einen starken Schutz ihrer Rechte genießen.

Marc Röggla

Marc Röggla studierte Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck und forschte seit 2013 am Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research. Er leitet das 2020 gegründete Center for Autonomy Experience, das Südtirols Modell der Autonomie und des Minderheitenschutzes in die Welt bringen soll. Seine Begeisterung für Wissensvermittlung lebt er auch im Podcast „Isch Gleich“ aus. Wenn er sich nicht seiner Familie widmet, findet er (immer seltener!) Zeit, um zu Laufen oder Badminton zu spielen.

Günther Cologna

Günther Cologna studierte in Salzburg Publizistik und in den USA Vergleichende Literaturwissenschaft. Er lebte und lehrte in den USA und Japan und engagiert sich seit Ende der Achtziger Jahre für Tibet. Nach einer längeren Tätigkeit als freiberuflicher Übersetzer, kam er 1996 zu Eurac Research, wo er eine Verwaltungsakademie aufgebaut hat und jetzt den Bereich Education & Training leitet. Er fühlt sich als Grenzgänger zwischen Ost und West.

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