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Nutzung und Verarbeitung der Zirbe

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Nutzung und Verarbeitung der Zirbe
Unterwegs im God da Tamangur - © Dominik Taeuber

Die Zirbe ist ein Baum der Superlative: Sie steigt bis in Höhen von über 2.000 Metern auf, ist frosttolerant bis minus 40 Grad Celsius, erträgt gleichzeitig aber auch Temperaturen bis plus 50 Grad – und wird bei alldem durchschnittlich rund 400 Jahre alt. Wobei einzelne Bäume auch ein unvorstellbares Lebensalter von 1.000 Jahren erreichen!

In der Schweiz wächst die Arve, wie die Zirbe hier genannt wird, schwerpunktmäßig unter anderem in der Region Unterengadin/ Val Müstair. Und so mache ich mich auf nach Fuldera, in die Schreinerei Frars Hohenegger. Seit bald 100 Jahren verarbeitet der 1925 von Valentins Großvater Josef Hohenegger gegründete Betrieb schwerpunktmäßig das Holz der Arve. Als ich den Showroom betrete, in dem unser Gespräch stattfinden wird, muss ich meine FFP2-Maske gar nicht ablegen, um den intensiven Arvenduft wahrzunehmen. Wie angenehm muss es sein, täglich von diesem Duft umgeben zu sein! „In der Tat“, bestätigen mir Valentin und Ralph, „es erdet und beruhigt, mit dem Arvenholz zu arbeiten.“

Europas höchstgelegener zusammenhängender Zirbenwald: der God da Tamangur © Dominik Täuber

„Astlöcher, Jahresringe und Maserung erzählen die individuelle Lebensgeschichte eines Baumes. Damit verdient auch jeder Baum eine individuelle Betrachtung und Behandlung.“

Valentin Hohenegger & Ralph Steiner, Fuldera

Arvenholz – ein echtes ‚Slow Wood‘

„In den Höhen, in denen die Arve hier im Val Müstair vorkommt, ist die Vegetationsperiode sehr kurz und die Winter sind lang und schneereich. Kein Wunder also, dass sie sehr langsam wächst. Sie ist eine echte Kämpferin und Überlebenskünstlerin in einem extremen Lebensraum“, erklären mir die beiden. Und genau dieses langsame Wachstum und die individuellen Charaktereigenschaften, die der Baum in seiner jahrhundertelangen Lebenszeit und durch zahlreiche extreme Wetterereignisse ausgebildet hat, sind das was Valentin und Ralph an der Arve so schätzen. Hierdurch ist das Holz, das sie tagtäglich in der Schreinerei verarbeiten, feinmaserig und charaktervoll. Astlöcher, Jahresringe und Maserung erzählen die individuelle Lebensgeschichte eines jeden Baumes. Kein Baum ist gleich und damit – so ihre Einstellung – verdient auch jeder Baum eine individuelle Betrachtung und Behandlung. Und einen wertschätzenden und respektvollen Umgang. „Je nach Höhenlage wächst der Baum anders, und besitzt entsprechend auch eine andere Struktur. Ein langsam gewachsener Baum beispielsweise eignet sich sehr gut zum Schnitzen.“

Dabei wird die Arve schon seit Jahrhunderten forstwirtschaftlich genutzt. „Dass der Baum heute nicht mehr übernutzt wird, so wie in früheren Zeiten, dafür sorgt das strenge Schweizer Waldgesetz. Dabei wird die Nutzung vom Kanton mit dem Förster genauestens abgestimmt“, erklärt mir Ralph. „Oberhalb von Valchava werden Arven auch wieder aufgeforstet“, ergänzt Valentin. Das Holz wird hier vor Ort geschlagen, in Valchava gesägt, und anschließend von Valentin, Ralph und ihren Mitarbeitern zu edlen Möbeln verarbeitet. Eine Art Nullkilometer-Möbel also.

Dabei bleibt nichts von den wertvollen Bäumen ungenutzt. Die Späne dienen in Form von Arven-Kissen für erholsamen Schlaf. Aus Restholz werden Bauklötze und dekorative Objekte hergestellt. Und nicht zuletzt dient der Verschnitt dem Heizen von zwei Wohnhäusern und der Werkstatt. Der Charakter der Bäume, ihre konische Wuchsform, ihre Astlöcher – all dies findet Eingang in die Möbel, die auf diese Weise zu echten Unikaten werden. „Traditionelle Holzarbeiten und Schnitzereien werden noch immer nachgefragt“, so Valentin und Ralph. „Aber auch wir Schreiner passen uns natürlich bis zu einem gewissen Grad den modernen Trends an – ohne jedoch unsere Seele zu verkaufen. Zwar besteht im Moment ein rechter Hype ums Arvenholz. Unseres Erachtens eignet sich dieses edle, seltene Holz aber keinesfalls für Massenprodukte – oder schlimmer noch, Wegwerfprodukte. Mit unseren Möbeln versuchen wir, die Zirbe in die Moderne führen, ohne das Alte zu vergessen. Sie auch zum Bestandteil einer urbanen Wohnkultur zu machen, die aber Wert auf Nachhaltigkeit legt.“

Wen wundert es da noch, dass man im Showroom ihrer Schreinerei jede Menge zeitlose Lieblingsstücke findet, die ihre Käufer nicht nur ein ganzes Leben lang begleiten sollen, sondern eigentlich für mehrere Generationen konzipiert sind? Ein Baum, der über Jahrhunderte wächst, kann und sollte auch in Form eines Möbels jahrzehnte- und bestenfalls jahrhundertelang weiterleben. Es ist fast so, als bekenne man sich mit dem Kauf eines solcherart gefertigten Möbels zu einem bestimmten Lebensstil.

Im Grunde genommen ist es also eine andere Form des Konsumierens, zu der Valentin und Ralph uns mit ihren Produkten animieren möchten: Einem Konsum, der auf Qualität statt Quantität setzt. Einem Konsum, der wenigen ausgesuchten, edlen, und qualitätvollen Erzeugnissen den Vorzug gibt statt schnelllebigen Massenwaren und Wegwerfprodukten. Einem Konsum, der auf lokal erzeugte Produkte setzt, und bei dem die Wertschöpfung am Produktionsort verbleibt.

In den „Heiligen Hallen“ der Schreinerei Frars Hohenegger: ein neues Möbelstück entsteht © Ralph Steiner

Hüter der Vielfalt: Valentin Hohenegger, Fuldera

Der Showroom der Schreinerei Frars Hohenegger ist geöffnet von Montag bis Freitag von 7:30 – 12 Uhr und von 13:30–17 Uhr sowie samstags und abends nach Vereinbarung. Von Mitte Juni bis Anfang Oktober bietet Valentin dienstags Führungen durch seine Werkstatt an. Dabei erfährt man alles über den Werdegang vom Baum zum Möbel, und bekommt so eine Vorstellung davon, wie viel Arbeit in jedem von Ralphs und Valentins Möbeln steckt. Wer würde dem Baum und seinen Produkten gegenüber dann nicht ebenso wertschätzend eingestellt sein wie die beiden Schreiner? Die Führungen sind buchbar bei Valentin unter der Telefonnummer +41 81 858 52 12 oder +41 76 304 38 22 (Anmeldung jeweils am Vortag bis spätestens 17 Uhr).

Die Schreinerei befindet sich in der Via Maistra 29 in 7533 Fuldera in unmittelbarer Nähe der Postauto-Haltestelle Fuldera Daint. www.frars-hohenegger.ch www.raina.ch

Hüter der Vielfalt: Ralph Steiner, Fuldera

Eng mit ihrer individuellen Familiengeschichte verwoben ist der Weg, der Manuela auf die ‚Spur der Zirbe‘ gebracht hat: „Begonnen hat alles mit dem Tipp einer älteren Bauersfrau“, erzählt sie mir. „Mein Mann und ich waren völlig übernächtigt, weil unser jüngster Sohn Matthias zwei Jahre lang nicht länger als zwei Stunden am Stück geschlafen hat. Wir sollten es mal mit einem Zirbenkissen versuchen, riet die Frau mir. Und was soll ich sagen? Ab der ersten Nacht mit dem Zirbenkissen in seinem Bettchen hat mein Sohn durchgeschlafen!“ Diese Erfahrung wollte Manuela mit anderen teilen, die vielleicht vor ähnlichen Problemen stehen wie sie und ihr Mann – und begann mit einer umfangreichen Recherche zur Zirbe. „Wir haben uns erst einmal intensiv eingelesen und Gespräche geführt. Vor allem mit den älteren Einwohnern von Prad. Und dabei sind wir auf einen reichen Wissensschatz gestoßen!“ Tatsächlich ist das Wissen um die positiven und ausgleichenden Wirkungen von Zirbenholz jahrhundertealt. Hieraus resultiert auch das heutige überaus breite Nutzungsspektrum dieses Baumes. So schätzte schon Hildegard von Bingen die desinfizierende und keimtötende Wirkung, die Zirbenharz beim Räuchern entfaltet. In vielen alten Bauernhäusern gibt es Zirbenstuben, die für ein friedliches Zusammenleben der Mehrgenerationenhaushalte förderlich waren. Nicht zuletzt waren Kleidertruhen und Getreidekästen aus Zirbenholz gefertigt, um Ungeziefer fernzuhalten.

Beim Nähen einer Kissenhülle © Naemi Punter

„Bei meinen Recherchen über das vielfältige Anwendungsspektrum der Zirbe bin ich auf einen reichen Wissensschatz gestoßen!“

Manuela Rufinatscha, Prad

Dabei fügen sich die vielfältigen Möglichkeiten das Zirbenholz zu nutzen, geradezu wundersam mit Manuelas Biografie zusammen: Denn sie ist die Tochter eines Tischlers, der unter anderem auch mit Zirbenholz gearbeitet hat. Daher überrascht es nicht, wenn für Manuela der Duft von Zirbenholz ein Gefühl von Ankommen und Daheimsein vermittelt. Ihre Großeltern hingegen besaßen eine Änderungsschneiderei in Mals; die Oma war gelernte Schneiderin und brachte Manuela das Nähen bei. Was lag da näher, als die eigenen guten Erfahrungen mit der Zirbe und die biografischen Besonderheiten miteinander zu verbinden und sich schwerpunktmäßig auf die Produktion von Zirbenkissen zu verlegen?

Dabei ist ein sorgsamer und wertschätzender Umgang mit dem Rohstoff für Manuela von großer Wichtigkeit: Das Holz stammt aus der Region, aus Prad und Umgebung, vom Watles und aus dem Langtauferer Tal. Es ist ihr Mann, der sich um die Beschaffung des Holzes kümmert. Die Späne siebt Manuela sorgfältig aus, um für ihre Kissen nur die beste Qualität zu verwenden. Da sie mit ihren Kissen auch diverse Hotels in der Region beliefert, gehören das Waschen der Kissenhüllen und periodisches Nachfüllen mit frischen Spänen ebenfalls zu ihrem Service. Diejenigen Zirbenspäne, deren Qualität sie als nicht ausreichend für ihre Kissen beurteilt, gibt sie an ihren Nachbarn weiter: Dieser verwendet sie als Einstreu in seinem Schafstall. Und wer weiß? Vermutlich gehen auch die Schafe seither ihren Alltag (noch) entspannter an.

Neben ihrem Mann sind inzwischen auch Manuelas Sohn und Tochter ins Geschäft eingebunden, sodass der Erfahrungs- und Wissensschatz innerhalb der Familie weitergegeben wird. Ein fundamentaler Aspekt, wenn immaterielles Kulturerbe lebendig bleiben soll!

Manuelas Wunsch, auch anderen die positive Wirkung der Zirbe zuteilwerden zu lassen, scheint sich jedenfalls zu erfüllen, wenn man an die positiven Rückmeldungen denkt, die sie erhält: „Von einer Frau, die seit einem schweren Autounfall nicht mehr ohne Schmerzen in ihren Beinen schlafen konnte, habe ich erfahren, dass sie auf meinen Zirbenkissen beschwerdefreie Nächte verbringt. Für mich ist das die beste Motivation, weiterzumachen!“

Ruhige Nächte garantiert: eine Kissenhülle wird mit duftenden Zirbenspänen befüllt © Naemi Punter

Hüterin der Vielfalt: Manuela Rufinatscha, Prad am Stilfserjoch

Eine sinnlich-duftende Erfahrung ist der Besuch in Manuelas Zirben-Showroom in Prad. Hier finden sich eine Reihe unterschiedlicher Produkte aus der Zirbe, alle liebevoll von Hand gearbeitet: neben den Kissen unter anderem auch Zirbenkugeln für Karaffen, Seifen, Handkrems und Sprays sowie diverse Dekoraktionsartikel. Der Showroom ist zu finden in der Schmiedgasse 25, 39026 Prad am Stilfserjoch. Nähere Informationen finden sich auch auf Manuelas Webseite: www.zirbenkraft.eu

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.

Die Wanderausstellung wird an folgenden Orten gezeigt:

  • 15.–31. Juli 2022: Karthaus, Kreuzgang der Kartause Allerengelberg
  • 06.-07. August 2022: auf dem Festival „Marmor und Marillen" in Laas
  • 03.–18. September 2022: auf den Palabiratagen in Glurns
  • 02.–14. Oktober 2022: auf dem Erntedankfest und in der Chasa Jaura in Valchava
Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt arbeitet am Institut für Regionalentwicklung zur großen Vielfalt der Thematik ‚Lebendiges Kulturerbe‘.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b122239673
Schmidt, R. Utilizzo e trasformazione del cirmolo. https://doi.org/10.57708/B122239673

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