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Weidenflechterei

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Weidenflechterei
Immer wieder erstaunlich, was die Weide mit sich machen lässt. - © SBO / Armin Huber

Es ist immer wieder überraschend und faszinierend für mich, zu sehen, wie facettenreich das lebendige Kulturerbe sein kann. Dies wird mir ganz besonders klar, als ich Irmgard auf dem Weberhof besuche.

„Flechten ist Vielfalt“

Es ist eine enorme Bandbreite unterschiedlicher Erzeugnisse, die Irmgard mit ihren bloßen Händen zu erschaffen vermag: von Taschen und Körben, Vasen, Kugeln, Blumenampeln über Wäschekisten, Lampenschirme und Rankhilfen bis hin zu Sitzmöbeln, lebenden Zäunen und ganzen Schränken – man könnte fast den Eindruck bekommen, dass sich ein Großteil der Dinge des täglichen Bedarfs aus Weidenzweigen herstellen lässt! Genau diese Vielfalt an Möglichkeiten ist es, was Irmgard an der Weidenflechterei so schätzt: „Man ist unglaublich frei in seiner Kreativität“, verrät sie mir. „Die Weide lässt fast alles mit sich machen und bleibt dabei als Pflanze dennoch unverwüstlich.“ Tatsächlich macht sich der Mensch dieses breite Nutzungsspektrum der Weide und ihre in jeder Hinsicht enorme ‚Flexibilität‘ schon seit Jahrtausenden zunutze: Bereits aus dem Mesolithikum stammen Seile und Fischernetze, die aus Weidenbast gefertigt wurden. Dabei bewahren die Weidenflechter freilich weitaus mehr als ausschließlich das Wissen um die verschiedenen Nutzungsformen der Weide und das kunsthandwerkliche Können des Flechtens an sich. Vielmehr erhalten sie mit ihrem Tun auch bestimmte, über Jahrhunderte gezüchtete Weiden-Kultursorten und bewährte Kultivierungsformen der Weiden.

Reine Handarbeit: eine Rankhilfe für Pflanzen entsteht © Armin Huber

In der Obhut des Menschen entstanden: Kulturweiden

Denn je nach gewünschtem Verwendungszweck wurden die Weidenbäume einer strengen Selektion unterzogen: So gibt es eine große Bandbreite an frühblühenden, besonders pollenreichen Bienen-Weiden für die Imkerei, Flechtweiden für Korbmacher und Zaunbauer, Energieholzweiden für die Brennholzgewinnung und Arzneiweiden, deren Rinde medizinisch genutzt wird. Allein über 400 Kultursorten der Korbweide sind auf diese Weise entstanden. Vermehrt werden sie in erster Linie nurmehr dort, wo sie aktiv genutzt werden. Daher überrascht es nicht, dass viele Weiden-Kultursorten inzwischen verschwunden oder zumindest vom Verschwinden bedroht sind.

„Mein Ziel ist, das Wissen weiterzugeben, damit das alte Handwerk und die damit verbundenen Kenntnisse nicht verloren gehen. Und dabei beobachte ich ein wachsendes Interesse an diesem wunderbaren, nachhaltigen Natur-Material.“

Irmgard Gurschler-Klotz, Galsaun
Höchste Konzentration: Irmgard bei der Arbeit © Armin Huber

Von Kopfweiden, lebenden Zäunen und Bodenkulturen: die Vielfalt der Kultivierungsformen

Je nach Kultursorte und Form der Nutzung haben sich zudem unterschiedliche Formen der Kultivierung herausgebildet. Kulturlandschaftsprägenden Charakter besitzen die Kopfweiden, von denen sich auch im Vinschgau an verschiedenen Stellen noch Exemplare befinden, insbesondere entlang der Etsch. Sie sind echte ‚Kultur-Biotope‘ und bieten auf kleinster Fläche Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten.

Irmgard hat sich auf einer Parzelle, die einst Weinreben trug, eine Bodenkultur angelegt. Jetzt, im April, sind die Weiden, die schon einige Jahre auf dem Buckel haben, nur wenige Zentimeter hoch – ein sehr ungewöhnlicher Anblick für mich. „Ich habe die Zweige im Februar geschnitten und einen Teil davon zum Trocknen eingelagert. Circa zwei Wochen vor dem Verarbeiten weiche ich die Ruten in Wasser ein, damit sie ihre Biegsamkeit zurückerhalten“, erklärt sie mir. Ihre Pflanzen vermehrt sie selbst über Stecklinge: „Bei der Auswahl achte ich auf Kriterien wie die Robustheit der Mutterpflanze, die Biegsamkeit der Ruten und die Farbe der Rinde. Ich bin sehr froh über meine eigene Weidenkultur, denn auf diese Weise bin ich in Bezug auf mein Arbeitsmaterial nun weitgehend unabhängig geworden.“ Und ihre Erzeugnisse sind auf diese Weise echte Nullkilometer-Produkte!

Begonnen hat ihre Leidenschaft auf einem Ausflug in die Winterschule Ulten mit den Südtiroler Bäuerinnen. „Schon als Kind habe ich beim Kühehüten auf dem elterlichen Hof am Schlanderser Nördersberg immer wieder mal versucht, etwas zu flechten. Meist mit Lärchen- oder Birkenzweigen. Aber besonders stabil waren diese ersten Objekte nicht. Als ich dann mit den Bäuerinnen im Sommer 2003 in Ulten war, hat mich ein Lampenschirm aus Weidenranken so fasziniert, dass ich von diesem Thema nicht mehr losgekommen bin“, erzählt sie mir. „Ich habe mich sofort zum dortigen Kurs angemeldet und konnte im Herbst starten.“ Insgesamt drei Jahre dauerte ihre Ausbildung – und gab ihr die Möglichkeit, auch beruflich neu durchzustarten. „Zunächst habe ich das Flechten hobbymäßig betrieben – dann kamen immer mehr Anfragen von Freunden und Bekannten nach meinen Erzeugnissen. Schließlich wurde auch der Schlanderser Bauernmarkt auf mich aufmerksam und seit einigen Jahren habe ich dort einen eigenen Stand.“ Inzwischen ist die Weidenflechterei zu einer festen Größe des Nebenerwerbs auf dem Weberhof geworden. Ihr großes Wissen gibt Irmgard in Kursen weiter: Im Rahmen der Initiative ‚Aus unserer Hand‘ als Bäuerinnen-Dienstleisterin der Südtiroler Bäuerinnen und in der ‚Flechtwerkstatt‘ des Bildungszentrums Schloss Goldrain. „Mein Ziel ist, das Wissen weiterzugeben, damit das alte Handwerk und die damit verbundenen Kenntnisse nicht verloren gehen“, verrät sie mir zum Schluss. „Und dabei beobachte ich ein wachsendes Interesse an diesem wunderbaren, nachhaltigen Naturmaterial.“

Hüterin der Vielfalt Irmgard Gurschler-Klotz, Galsaun

Weiterführende Informationen zum Weberhof, auch zur Schnapsbrennerei, die seit drei Generationen dort betrieben und von Irmgards Mann Walter weitergeführt wird, finden sich auf der Webseitewww.weberhof.bz. Ferner ist Irmgard auf der Webseite der Südtiroler Bäuerinnenorganisation als Bäuerinnen-Dienstleisterin porträtiert; hier finden sich auch weitergehende Informationen zu den Kursen, die sie im Rahmen der Initiative ‚Aus unserer Hand‘ anbietet: Irmgard Gurschler Klotz - Südtiroler Bäuerinnenorganisation (baeuerinnen.it).

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Serie zur Ausstellung "Hüter der Vielfalt". Diese wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Es handelt sich um eine Wanderausstellung, die vom 15. Juli bis 14. Oktober 2022 im Vinschgau und der Val Mustair stattfindet. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.

Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt

Ricarda Schmidt arbeitet am Institut für Regionalentwicklung zur großen Vielfalt der Thematik ‚Lebendiges Kulturerbe‘.

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Citation

https://doi.org/10.57708/b122239624
Schmidt, R. L’arte dell’intreccio dei vimini. https://doi.org/10.57708/B122239624

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