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Chronischer Schmerz

Wie er entsteht, wie verbreitet er ist und wie wir ihn erforschen

Warum sind Schmerzen überlebenswichtig? Warum werden sie in einigen Fällen chronisch? Und warum können häufig auch Medikamente nichts gegen sie ausrichten? Um darauf zu antworten, muss man die Vorgänge in jenen Zellen untersuchen, die uns Schmerz spüren lassen.

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Was ist Schmerz?

Der Weltschmerzorganisation (IASP = International Association for the Study of Pain) zufolge ist Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung verknüpft ist oder einem solchen Erlebnis ähnelt. Bei den Gewebeschäden kann es sich zum Beispiel um Hautwunden oder Knochenbrüche handeln, aber auch um Entzündungen in tiefliegenden Geweben, beispielsweise im Darm. Schmerz ist jedoch eine sehr komplexe subjektive Empfindung, bei der neben biologischen auch psychologische und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Menschen können nicht nur verbal mitteilen, dass sie Schmerzen haben: Auch durch die Mimik wird Leiden ausgedrückt, oder durch Verhaltensweisen wie das Vermeiden von Bewegung, soziale Isolation, allgemeines Unbehagen oder Unzufriedenheit. Jede Schmerzäußerung sollte respektiert werden, da es sich um eine subjektive Empfindung handelt, die auch ohne tatsächlichen Gewebeschaden bestehen kann. Vor allem Frauen haben in der Vergangenheit darunter gelitten, dass ihre Schmerzen nicht ernst genommen wurden. Viele Schmerzerkrankungen betreffen ausschließlich Frauen, etwa Endometriose, oder treten bei Frauen häufiger auf, wie Arthrose; und da Medizin und Forschung bis vor einigen Jahrzehnten männlich dominiert waren, wurden diese Krankheiten verharmlost und die damit verbundenen Schmerzen heruntergespielt.

„Nozizeptoren sind sensorische Nervenzellen, die schmerzhafte Reize wahrnehmen können. Der Name enthält das lateinische Verb nocere = schaden.”

Wie entsteht Schmerz?

Die Schmerzempfindung ist mit der Funktion einer elektrischen Schaltung vergleichbar: So wie die Glühbirne aufleuchtet, wenn man auf den Schalter drückt, so wird unser Schmerzempfinden und alle nachfolgenden Reaktionen eingeschaltet, wenn die Nozizeptoren aktiviert werden, besondere Sinneszellen, die schmerzauslösende Reize erkennen. Die Nozizeptoren heißen nicht zufällig so – ihr Name kommt vom Lateinischen Verb nocere, was „schaden“ bedeutet. Berühren wir versehentlich einen Dorn, aktiviert der Stich die Nozizeptoren in der Haut der Hand. Wie ein Schalter aktivieren diese einen Schaltkreis von Neuronen, der bis in die Muskeln reicht. Innerhalb weniger Tausendstelsekunden wird eine Reaktion ausgelöst, die den Rückzug der Hand bewirkt. All dies geschieht ganz unabhängig vom Gehirn, die Bewegungen sind unwillkürlich und werden als „Reflex“ definiert. Einige Millisekunden später erreicht das Signal das Gehirn, wo es das Schmerzempfinden erzeugt und das Bewusstsein, gerade etwas Stechendes berührt zu haben.

Schmerzschaltkreis

Der Kaktusdorn aktiviert die Nozizeptoren der Haut, besondere Nervenzellen, die ein Signal an die Wirbelsäule senden und damit wiederum andere Neuronen aktivieren. Einige dieser Neuronen leiten das Signal an die Hand weiter und veranlassen sie, sich mit einer unwillkürlichen Bewegung (Reflex) zurückzuziehen. Andere Neuronen leiten das Signal an das Gehirn weiter, wo die Schmerzempfindung verarbeitet wird. © Eurac Research | Fabio Dalvit

Erst im Gehirn wird der Reiz verarbeitet: Wir verstehen, woher er kommt, welcher Art (heiß, kalt, brennend, juckend . . . ) und wie stark er ist. Außerdem wird eine Erinnerung geschaffen, weshalb wir die negative Erfahrung nicht wiederholen und eine emotionale Reaktion entwickeln, etwa Angst vor Pflanzen mit Dornen. Und das ist noch nicht alles: Das Gehirn kann die Schmerzwahrnehmung durch andere Neuronen verändern, die vom Gehirn aus auf den Schaltkreis einwirken: Wie eine Art Lautstärkeregler erhöhen oder verringern sie die Intensität und Häufigkeit, mit der das Schmerzsignal im Gehirn ankommt. Tatsächlich nutzen Antidepressiva genau diesen Mechanismus: Sie hemmen die Aktivität des Schaltkreises, der den Schmerzreiz an das Gehirn weiterleitet, die Empfindung wird dadurch weniger intensiv.

Wir haben mehr als fünf Sinne


In der Schule haben wir zwar gelernt, dass der Mensch fünf Sinne hat (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten), doch ist unser Körper in der Lage, auch andere Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten. Unbewusst „fühlen“ wir, wenn sich unser Blutdruck verändert, und stabilisieren ihn; wir nehmen die Orientierung und Position unseres Körpers wahr und wissen, ob wir liegen, stehen oder kopfüber hängen. Ändert sich unsere Körpertemperatur oder brechen wir uns einen Knochen, vermitteln unsere Empfindungen uns Informationen über die Welt rundum oder über die Geschehnisse in unserem Körper. Diese verschiedenartigen Reize kann unser Körper dank „sensorischer” Nervenzellen wahrnehmen: hoch spezialisierte Zellen, die wie Sensoren funktionieren. Im Auge zum Beispiel befinden sich Rezeptoren, die auf Lichtreize reagieren. Durch Licht aktiviert, leiten diese Fotorezeptoren Informationen an das Gehirn weiter, um ein Bild der Außenwelt zu erzeugen. Eine andere Art von sensorischen Nervenzellen sind an der Schmerzwahrnehmung beteiligt, die sogenannten „Nozizeptoren“ – etymologisch eine Verbindung aus noceo und der Abkürzung von receptor (Definition 1), beides lateinisch. *noceō: ich schädige, verletze receptor: spezialisierte Zelle, die auf einen Sinnesreiz reagiert*.

Welchen Sinn haben Schmerzen?

Wir alle träumen von einem Dasein ohne Schmerzen, in Wirklichkeit jedoch ist diese Empfindung für unser Überleben von großer Bedeutung. Durch Schmerz lernen wir, uns in unserer Umwelt zu bewegen und gefährliche Situationen zu vermeiden. Verbrennen wir uns zum Beispiel als Kind die Hand an einer heißen Oberfläche, prägt sich uns diese Erfahrung ein und wir werden die Fläche künftig nicht mehr anfassen. Wegen der Entzündung sind zudem die Nozizeptoren leichter erregbar, weshalb wir die Hand schützen, bis das Gewebe vollständig verheilt ist. Dasselbe geschieht bei anderen Verletzungen: Der Schmerz der Schwellungen oder Blutergüsse führt dazu, dass wir uns der betroffenen Stelle annehmen. Schmerz hat sich im Lauf der Evolution erhalten, alle Lebewesen mit einem Nervensystem kennen ihn. Selbst die Fruchtfliege vermeidet zum Beispiel Oberflächen, die heißer sind als 42 °C. Eine Studie der Universität Sydney hat gezeigt, dass Fruchtfliegen, denen ein Bein amputiert wird, schon Oberflächen über 38 °C meiden: Sie reagieren überempfindlich auf Hitze, weil die sensorischen Neuronen am Stumpf des abgetrennten Beins eine erhöhte Erregbarkeit zeigen.

Obwohl Schmerz für unser Überleben so wichtig ist, können einige Menschen ihn nicht empfinden. Ursache dieser „angeborenen Schmerzunempfindlichkeit“ – Congenital insensitivity to pain, CIP – , mit der häufig eine Unfähigkeit zu schwitzen einhergeht, ist ein äußerst seltener genetischer Defekt (wie häufig er vorkommt, ist nicht bekannt). Betroffene nehmen zwar ganz normal Berührungen, nicht aber schädliche Reize wahr, bzw. können nicht darauf reagieren. Menschen mit dieser Krankheit tragen häufig bleibende Schäden davon, unter anderem durch Verbrennungen, Verletzungen in der Mundhöhle oder unbemerkte Knochenbrüche.

Können Schmerzen chronisch werden?

Normalerweise empfinden wir akuten, zeitlich begrenzten Schmerz als Reaktion auf eine Gewebeschädigung, zum Beispiel einen Schnitt, einen Knochenbruch oder eine Darminfektion. Nach der anfänglichen Entzündung heilt das Gewebe, und auch die Schmerzen verschwinden. Doch in einigen Fällen kann der Schmerz anhalten, auch wenn die Wunde geheilt scheint. Dies hängt mit Veränderungen im Schmerzschaltkreis zusammen. Die Nozizeptoren werden „übererregbar“ und verstärken ihrerseits die Aktivität der anderen Neuronen im Schmerzschaltkreis. Auch die an der Schmerzwahrnehmung im Gehirn beteiligten Neuronen können dadurch ihre Aktivität verändern. Dies führt dazu, dass wir auf normalerweise harmlose Reize mit einer übersteigerten Schmerzwahrnehmung reagieren.

„Noch ist unklar, ob chronische Schmerzen die Ursache für Depressionen sind, oder ob, wer an Depressionen leidet, mit größerer Wahrscheinlichkeit chronische Schmerzen entwickelt.“

Ein Fünftel der Menschen in Europa leidet an chronischen Schmerzen. 25 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Gesundheitsstudie CHRIS von Eurac Research und dem Südtiroler Sanitätsbetrieb haben erklärt, schon länger als sechs Monate wiederkehrende Schmerzen zu haben. Wer schon an einer Form chronischer Schmerzen leidet, ist häufig anfällig dafür, auch noch andere Formen zu entwickeln. Chronische Schmerzen beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen stark und sind häufig mit Schlafstörungen, Müdigkeit und Depressionen verbunden. Noch ist jedoch unklar, ob chronische Schmerzen die Ursache für Depressionen sind, oder ob Menschen, die an Depressionen leiden, häufiger chronische Schmerzen entwickeln. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zu affektiven Störungen in der CHRIS-Studie stellten wir die Hypothese auf, dass das Temperament als angeborenes Persönlichkeitsmerkmal die Schmerzwahrnehmung beeinflussen könnte. Die vorläufigen Ergebnisse bestätigen diese Hypothese. Das als „Zyklothymie“ definierte affektive Temperament, eines von fünf affektiven Temperamenten, typischerweise gekennzeichnet durch Angst, Depression und Stimmungslabilität, weist eine hohe Schmerzwahrnehmung auf. Das als „hyperthymisch" definierte Temperament, charakterisiert durch eine sonnige und optimistische Einstellung, zeigt dagegen eine niedrige Schmerzempfindlichkeit. Die unterschiedlichen genetischen und neurophysiologischen Grundlagen der beiden Temperamente eröffnen das Feld für weitere Forschungen und Erkenntnisse zu den Mechanismen der Schmerzmodulation und möglichen Risikofaktoren für den Missbrauch von Schmerzmitteln.

Unter den Krankheiten, die mit chronischen Schmerzen verbunden sein können, stellen Erkrankungen des Bewegungsapparats die größte Gruppe dar. Besonders verbreitet sind Arthrose und Schmerzen im unteren Rücken. Besser erforscht, obwohl seltener, sind aber neuropathische Schmerzen, das heißt Schmerzen, die auf die Schädigung oder den Verlust einer Gruppe von Neuronen zurückzuführen sind; hier hat die Wissenschaft schon ein genaueres Bild der Ursachen. Zu den bekanntesten neuropathischen Schmerzen gehören die durch Diabetes und Chemotherapie ausgelösten.

Was sind die Ursachen chronischer Schmerzen?

Mehrere epidemiologische Studien bestätigen eine genetische Komponente, auch wenn kein bestimmtes dafür verantwortliches Gen identifiziert werden kann. Ein Risikogen zu identifizieren ist auch deshalb schwierig, weil eine Vielzahl von Krankheiten, mit zum Teil unterschiedlichen Mechanismen, chronische Schmerzen verursachen. Außerdem haben Medikamente, die in Tests an Mäusen gut funktionieren, beim Menschen nicht immer die gleiche Wirkung. Ein Beispiel ist Tanezumab von Pfizer, ein Antikörper, der auf den sogenannten „Nervenwachstumsfaktor" (NGF) wirkt. Ihn zu blockieren, lindert bei Mäusen verschiedene Arten von Schmerzen, etwa Schmerzen bei Knochenkrebs, Knochenbrüchen und Arthrose. Nach 41 klinischen Studien am Menschen, in denen die Verwendung von Tanezumab als Schmerzmittel bei Arthrose getestet wurde, beschloss die amerikanische Food and Drug Administration, die in den USA für die Arzneimittelsicherheit und -zulassung zuständige Behörde, im März 2021, das Medikament nicht zuzulassen: Sein Nutzen war gering, der Zustand einiger Patienten verschlechterte sich sogar. Erfolgsgeschichten im Bereich der Schmerzmittelentwicklung gab es in den letzten Jahren nur bei den Opioiden (morphinähnliche Wirkstoffe). Opioide hemmen die Aktivierung der am Schmerzschaltkreis beteiligten Neuronen, so dass wir weniger Schmerzen empfinden. Jedoch haben Opioide vielfache Nebenwirkungen und führen zudem zu Abhängigkeit. Nur wenn wir die Mechanismen des Schmerzempfindens auf zellulärer Ebene untersuchen, also verstehen, welche Moleküle daran beteiligt sind, können wir neue Medikamente entwickeln, die auf eben diese Moleküle einwirken. Am Institut für Biomedizin arbeiten wir deshalb daran, neue Gene zu identifizieren, die eine Rolle bei chronischem Schmerz spielen. Dazu forschen wir an Zellmodellen menschlicher sensorischer Neuronen, denn damit erreichen wir zweierlei:

1) Wir vermeiden Speziesunterschiede – wir sind sicher, dass unsere Ergebnisse die Situation im menschlichen Organismus widerspiegeln und nicht zum Beispiel die einer Maus. 2) Durch den Schwerpunkt auf sensorische Neuronen können wir zur Entwicklung von Medikamenten beitragen, die lokal und peripher wirken und daher weniger Nebenwirkungen haben.

Wie wird Schmerz geheilt?

Leider gibt es kein wirkliches Heilmittel gegen Schmerzen. Schmerzen behandeln bedeutet, die Symptome zu reduzieren. Medikamente können entweder lokal im peripheren Gewebe wirken oder in das Nervensystem eindringen und direkt im Gehirn wirken. In der nachfolgenden Tabelle sind die am häufigsten zur Schmerzbehandlung eingesetzten Arzneimittel aufgeführt. Die Informationen dazu dienen als Beispiel und stellen keine therapeutische Indikation dar: Arzneimittel sollten ausschließlich unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden.

Medikamente

MEDIKAMENTENTYPBEISPIELEWIRKUNGWICHTIGSTE NEBENWIRKUNGEN
Nicht-steroidale entzündungshemmende MedikamenteIbuprofen, AspirinEntzündungshemmendMagen-Darm-Beschwerden
OpioideMorphin, Fentanyl, Methadon, KodeinWirken im NervensystemÜbelkeit, Schläfrigkeit, Juckreiz, Verstopfung, Abhängigkeit
Antikonvulsiva (Antiepileptika)Carbamazepin, Valproinsäure, Clonazepam, GabapentinWirken im zentralen NervensystemMüdigkeit, Übelkeit, Nierenschäden
AntidepressivaKetamin, Fluoxetin, DuloxetinWirken im zentralen NervensystemSpeichelmangel, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl
KortikosterioideKortison, PrednisonEntzündungshemmend, wirken zudem im zentralen NervensystemDiabetes, Bluthochdruck, Infektionen, Netzhautschäden

Außer Medikamenten gibt es für Patienten mit chronischen Schmerzen noch andere Möglichkeiten der Therapie, die häufig genutzt werden. Eine Alternative zur medikamentösen Behandlung, die bei einem Gutteil der Patienten, insbesondere bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen, hervorragende Ergebnisse erzielt, ist die Stimulation der Nervenfasern im Rückenmark. Dazu wird ein Stimulator in das Rückenmark implantiert und je nach den individuellen Bedürfnissen eingestellt. Auf welche Neuronen er genau wirkt, weiß man nicht, aber man nimmt an, dass es vor allem hemmende Neuronen im Rückenmark sind, die dann die Aktivierung des Schmerzkreislaufs unterdrücken können. Auch körperliche Aktivität ist eine Form der Therapie. Menschen, die sich körperlich betätigen, haben ein geringeres Risiko, chronische Schmerzen zu entwickeln; dies gilt auch für ältere Menschen. Je regelmäßiger, länger und intensiver die Aktivität, desto geringer ist das Risiko. Auch bei Menschen, die chronische Schmerzen haben, führt Bewegung dazu, dass sie eine Zeitlang weniger Schmerzen empfinden, obwohl wir den genauen Mechanismus nicht kennen. Eine Hypothese ist, dass der Körper nach dem Sport endogene Opioide freisetzt, also Substanzen, die chemisch dem Morphin ähneln, aber vom Körper selbst produziert werden, wie die berühmten Endorphine. Selbst bei Menschen, die bereits unter chronischen Schmerzen leiden, verringert Sport die Schmerzen und erhöht die Lebensqualität.

„Wer eine Placebotablette eingenommen hatte, verspürte weniger Schmerz – auch jene, die wussten, dass die Tablette keine Wirkstoffe enthielt.“

Auch der Placeboeffekt kann in der Schmerztherapie genutzt werden. Ein Placebo ist eine Substanz oder Behandlung ohne therapeutischen Wert; wird sie als therapeutisch wahrgenommen und bewirkt eine Verbesserung des Zustands, spricht man von Placeboeffekt. In der Schmerztherapie hat der Placeboeffekt große Bedeutung, sie ist der einzige Bereich der Medizin, wo eine signifikante Wirksamkeit festgestellt wird. Am überraschendsten ist dabei vielleicht, dass der schmerzlindernde Effekt auch dann eintritt, wenn die Behandelten wissen, dass sie eine wirkstofffreie Substanz erhalten. In einer vor Kurzem durchgeführten Untersuchung der Harvard Medical School und des Endicott College wurden Menschen, die am Reizdarmsyndrom litten, in drei Gruppen eingeteilt: Einigen wurde eine wirkstofffreie Tablette verabreicht, ohne dass sie es wussten, andere wussten es, und einige erhielten gar keine Tablette. Im Vergleich zu dieser letztgenannten Gruppe nahmen alle, die eine Tablette erhalten hatten, eine Verringerung der Schmerzen und eine Verbesserung anderer Krankheitssymptome wahr, unabhängig davon, ob sie wussten, dass es sich um ein Placebo handelte oder nicht. Offenbar sind andere nicht konventionelle Behandlungen, etwa Akupunktur, nicht wirksamer als der Placeboeffekt. Aber wie kann eine wirkstofffreie Substanz auf den Schmerz wirken? Welcher Mechanismus dem Phänomen zugrunde liegt, ist nicht genau bekannt. Es gibt verschiedene Theorien zur Erklärung: Eine unterstreicht, dass sich die enge Interaktion zwischen Behandelten und medizinischem Personal positiv auswirken kann; eine andere Theorie betont die Rolle der Erwartung oder auch nur des Wunsches der Kranken, dass die Behandlung eine schmerzlindernde Wirkung haben möge. Was die Placeboanalgesie verursacht, ist nicht bekannt; man hat aber gesehen, dass sie mit der Aktivierung von Hirnregionen zusammenhängt, die am Schmerzschaltkreis beteiligt sind. Pharmakologische Studien zeigen zudem, dass am Placebo-Effekt biochemische Vorgänge beteiligt sind, unter anderem die Produktion von körpereigenen Opioiden wie Endorphin.

Wie können wir neue Schmerzmittel entwickeln?

Wie wir gesehen haben, ist die Schmerzempfindung das Ergebnis einer langen Reihe chemischer Prozesse entlang des Schmerzschaltkreises. Eine Vielzahl von Nervenzellen bilden eine Kette, das Signal wird von einer zur anderen bis zum Gehirn weitergeleitet. Um neue Analgetika zu entwickeln, gilt es, die Mechanismen zu verstehen, die in den einzelnen Zellen des Schmerzschaltkreises ablaufen, insbesondere in den Nozizeptoren. Durch Einwirkung auf den ersten Schalter, also den Nozizeptor, können unerwünschte Wirkungen von Medikamenten vermieden werden. Nicht umsonst ging der Nobelpreis für Medizin 2021 an David Julius und Ardem Patapoutian, die in akribischer Arbeit Rezeptoren identifiziert haben, die heiße, kalte und mechanische Reize erkennen können. Dank ihrer Erkenntnisse verstehen wir nicht nur, wie unser Körper zwischen Reizen unterschiedlicher Natur unterscheidet, sondern auch, wie diese Rezeptoren und andere Moleküle in den Nozizeptoren an dem Mechanismus beteiligt sind, der chronische Schmerzen verursacht.

Was in den Zellen geschieht, wenn ein Nozizeptor aktiviert wird


Das erste Element im Kreislauf ist der Nozizeptor, der den physikalischen Reiz (Wärme, Druck...) aufnimmt und in ein elektrisches Signal verwandelt, das von Zelle zu Zelle weitergeleitet wird, ähnlich wie Strom. Um diesen Strom auszulösen, sind in die Zellwand des Nozizeptors eingebettete Proteine nötig. Diese Proteine sind so angeordnet, dass sie Kanäle bilden, die sich öffnen und schließen können. Normalerweise sind die Kanäle geschlossen und der Nozizeptor ist inaktiv. Ein schmerzhafter Reiz führt dazu, dass sich einige Kanäle plötzlich öffnen und ein Strom positiv geladener Natriumionen (Na+) in den Nozizeptor eintritt. Dadurch entsteht ein starkes Ungleichgewicht und ein unaufhaltsamer Strom beginnt sich auszubreiten.
Nach wenigen Sekundenbruchteilen schließen sich die Kanäle wieder und der Fluss wird unterbrochen; gleichzeitig öffnen sich andere Kanäle und geben K+ (Kalium)-Ionen nach außen frei, um eine übermäßig positive Ladung zu vermeiden. Durch den Abfluss der Ionen wird nach und nach die anfängliche Gleichgewichtssituation wiederhergestellt und der Nozizeptor kehrt in seinen Ruhezustand zurück. Wenn wir diese zellulären Mechanismen untersuchen und verstehen, welche Moleküle daran beteiligt sind, kann uns das helfen, neue Medikamente zu entwickeln, um diese „schmerzhaften“ Informationen zu blockieren oder zu verlangsamen.

Daten der CHRIS-Studie liefern Hinweise auf ein potenzielles Risikogen für chronische Schmerzen: das KCND3-Gen. Es enthält die Informationen für den Kaliumkanal in der Zellmembran der an der Schmerzübertragung beteiligten Nozizeptoren. Studien an den Universitäten von Harvard und Taipeh (Taiwan) haben gezeigt, dass Mäuse, denen das KCND3-Gen fehlt, viel schneller auf einen Reiz reagieren, weil ihre Nozizeptoren viel schneller aktiviert werden. Dies könnte bedeuten, dass sie mehr Schmerzen wahrnehmen. Außerdem ist bei Mäusen, die an neuropathischen Schmerzen leiden, die Expression von KCND3 verändert – wird sie auf normales Niveau gebracht, gehen die Schmerzen zurück. Bei Eurac Research untersuchen wir die identifizierten Mutationen im KCND3-Gen, um herauszufinden, ob die Nozizeptoren bei Menschen mit diesen Mutationen übererregbar und daher aktiver als normal sind, und diese Menschen somit mehr Schmerzen empfinden.

Mit induzierten pluripotenten Stammzellen (Stammzellen, die künstlich aus adulten Zellen erzeugt werden, in diesem Fall aus Blutzellen) können wir Nozizeptoren in Kultur gewinnen. Dazu nutzen wir ein Protokoll, das von unseren Forschungspartnern an der Universität Heidelberg entwickelt wurde.

Als Ausgangsmaterial dienen Haut- oder Blutzellen, die ihrer Eigenschaften beraubt, also in „neutrale“ Stammzellen – sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen – verwandelt werden. Anschließend können sie in jeden beliebigen Zelltyp differenziert werden, man kann also Zellen mit verschiedenen Funktionen erhalten. In unserem Fall: sensorische Nervenzellen.

An diesen Zellen können wir untersuchen, ob die in der CHRIS-Studie identifizierten genetischen Varianten in KCND3 die Erregbarkeit der Nozizeptoren erhöhen. Wir untersuchen auch den Kaliumkanal KCND3, um festzustellen, ob er in einer bestimmten Kategorie von Nozizeptoren exprimiert wird. In einem zweiten Schritt werden wir prüfen, ob bereits zugelassene Medikamente, die auf das KCND3-Gen wirken, genutzt werden können, um die Übererregbarkeit und damit den Schmerz zu verringern. Dieses Zellmodell von Nozizeptoren kann in Zukunft auch verwendet werden, um den Einfluss anderer in der CHRIS-Studie identifizierter Schmerzgene zu untersuchen.

Autor: Larissa de Clauser
Redaktion: Laura Eccel, Valentina Bergonzi
Übersetzung: Barbara Baumgartner
Grafik: Alessandra Stefanut
Illustrationen: Oscar Diodoro

Die Untersuchungen zum Schmerz wurden im Rahmen eines durch das „Seal of Excellence“ der Autonomen Provinz Bozen finanzierten Projekts durchgeführt.

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