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„Wissenschaft und Forschung sind wichtig für die Bewältigung zukünftiger Krisen.“

Ein Skype-Gespräch mit Stephan Ortner und Roland Psenner, Direktor und Präsident von Eurac Research

Ivo Corrà
© Eurac Research | Ivo Corrà

Ist Forschung im Home Office möglich? Welchen Beitrag leistet Eurac Research in der aktuellen Krise? Welches sind die Fragen die wir uns nach der akuten Covid-19 Krise stellen müssen? Ein Skype-Gespräch mit Stephan Ortner und Roland Psenner, Direktor und Präsident von Eurac Research.

500 Forscherinnen und Forscher von Eurac Research sind seit drei Wochen im Smart Working Modus. Inwieweit ist es möglich in so einer Ausnahmesituation dem „Business as Usual“ nachzugehen?

Ortner: Der Übergang war recht reibungslos, da wir schon seit zwei Jahren das Modell des Smart Working haben. Außer den Kolleginnen und Kollegen von den zentralen Dienstleistungen arbeiten alle von uns an wissenschaftlichen Projekten und das heißt, man arbeitet in der Regel zum Teil am Computer, zum Teil im Feld und ist auch auf Konferenzen unterwegs; die Arbeit ist somit von vorneherein nicht mehr an einen Schreibtisch gebunden. Insofern ist das Smart Working für uns relativ leicht umzusetzen. Etwas anderes ist es für jene von uns, die in den verschiedenen Laboren arbeiten. Hier stocken natürlich die Projekte. Viele unserer Forscherinnen und Forscher beschäftigen sich aber seit Ausbruch der Corona-Pandemie mit neuen Fragestellungen.

Die da wären?

Ortner: Zum einen verfolgen unsere Biostatistiker den Verlauf der Pandemie auf der ganzen Welt. Ihre Berechnungen werden von verschiedenen Ländern gebraucht, um den Erfolg ihrer Gegenstrategien zu messen.

In einer Pandemie verschwinden globale (und lokale) Probleme ja nicht. Sie werden für einige Zeit aus dem Bewusstsein verdrängt, kommen dann aber umso fordernder zurück.

Roland Psenner, Präsident Eurac Research
Roland Psenner, Präsident Eurac Research© Eurac Research | Ivo Corrà

Zum anderen bilden sich gerade interdisziplinäre Arbeitsgruppen, die dabei sind Szenarien zu erstellen, welche Auswirkungen diese Pandemie auf die verschiedensten Bereiche des Lebens und des Wirtschaftens haben könnte. Letztendlich geht es jetzt als Forschungsinstitution auch darum, den verantwortlichen politischen Akteuren mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, um nach der akuten Ausnahmesituation schnellstmöglich einen Zustand der Normalität zu erreichen. Was auch immer die „Normalität“ nach dieser Pandemie sein wird.

Welche Expertisen kann Eurac Research aktuell einbringen?

Ortner: Neben den fachspezifischen Expertisen im Bereich der Epidemiologie oder Biostatistik, stellen wir aktuell dem Südtiroler Sanitätsbetrieb unser Laborequipment für die Diagnosetests von Covid-19 zur Verfügung. Wir prüfen zudem gerade den rechtlichen Rahmen, damit wir auch unsere technischen Experten zur Verfügung stellen können, um das Personal in den Laboren zu unterstützen und die Kapazitäten zu erhöhen.

Psenner: Was sich in der Krise zeigt, ist die Bedeutung der Grundlagenwissenschaft, unsere spezifischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Notfallmedizin und dem Wissensschatz aus der Populationsstudie CHRIS, aber auch unserer Kompetenz bei der Analyse und Prognose bei der Ausbreitung von Epidemien. Dass ausländische Ärzte unserer Institute sich freiwillig für die Arbeit in den Spitälern zu Verfügung stellen, möchte ich nicht unerwähnt lassen. Der Blick auf die medizinischen Aspekte der Krise ist allerdings zu wenig, denn SARS-CoV-2 hat uns gezeigt, dass unzählige Bereiche der Gesellschaft in Mitleidenschaft gezogen werden.

Neben den fachspezifischen Expertisen im Bereich der Epidemiologie oder Biostatistik, stellen wir aktuell dem Südtiroler Sanitätsbetrieb unser Laborequipment für die Diagnosetests von Covid-19 zur Verfügung.

Stephan Ortner, Direktor Eurac Research

Welche Eurac Expertise wird in Zukunft gefragt sein?

Psenner: Obwohl uns die Corona-Krise vor eine unerwartet neue Situation stellt, wird die gesamte Expertise von Eurac Research nachher genauso notwendig sein, denn in einer Pandemie verschwinden globale (und lokale) Probleme ja nicht. Sie werden für einige Zeit aus dem Bewusstsein verdrängt, kommen dann aber umso fordernder zurück. Natürlich kann man sich über leere Straßen und geringere Emissionen freuen (man könnte sich sogar fragen, ob saubere Luft, reduzierter Autoverkehr weltweit mehr Menschenleben retten als dem Corona-Virus zum Opfer fallen) und viele Forscherinnen und Forscher werden die Auswirkungen dieses gesellschaft¬lichen „Standby“ auswerten. Trotzdem, wirtschaftlicher Stillstand wird die notwendige Transformation von einer Verbrauchs- zu einer Kreislaufwirtschaft („Green Economy“) nicht befördern. Was wir aber sehr wohl beobachten, ist die Resilienz einer Gesellschaft, also die Fähigkeit, nach einer massiven Störung wieder in den „Normalzustand“ zurückzufinden. Hier sehe ich die besondere Stärke unseres Forschungsinstituts, da wir nicht nur einzelne Gesichtspunkte betrachten, sondern das gesamte Spektrum von medizinischen, naturwissenschaftlichen, technischen, sozialen, juristischen Sphären analysieren und bewerten. Nun zur vielleicht schwierigsten Frage: Müssen wir uns selbst, unsere Verhalten als Wissenschaftler und Forscherinnen ändern? Wie werden wir unsere Tagungen organisieren? Werden wir auch in Zukunft so viel fliegen müssen? Brauchen wir insgesamt andere Arbeitsformen und neue Organisationsstrukturen? Auf all diese Herausforderungen müssen wir und die gesamte Gesellschaft Antworten finden.

Herr Psenner, Forscherinnen und Forscher sind in dieser Krise gefragte Experten. Sehen Sie darin eine Chance für die Wissenschaft?

Psenner: Wenn man die Maßnahmen unterschiedlicher Länder (China, Korea, USA, Brasilien …) vergleicht, kann man feststellen, dass die Krise am ehesten dort bewältigt werden kann, wo Politiker auf wissenschaftliche Erkenntnisse Wert legen. Vielleicht könnte das eines der positiven Auswirkungen der Corona-Krise sein: Wissenschaft und Forschung für die Vorbereitung und Bewältigung zukünftiger Krisen zu fördern.

Herr Psenner, welche Frage treibt Sie gerade persönlich um?

Psenner: Was mich umtreibt ist die Frage, ob wir in der Krise hilfsbereiter oder egoistischer werden. Während sich die Welt in einzelne Kontinente und Länder auflöst und Europa wieder in Nationalstaaten zerfällt, zeigen viele Menschen zum Teil extreme Hilfsbereitschaft. Unsere chinesischen Partneruniversitäten in Peking und Hebei haben uns schon vor zwei Wochen kontaktiert und gefragt, wie sie uns in dieser schweren Zeit zur Seite stehen können. Sie haben uns große Mengen an Schutzausrüstung geschickt, die wir der Sanitätseinheit, dem Zivilschutz und unseren am stärksten gefährdeten Mitarbeiterinnen zur Verfügung stellen. Verwunderlich für mich war, dass die Bürokratie, etwa die Zollformalitäten, immer noch im Vorkrisenmodus läuft, während sich der Rest des Landes seit langem auf die neue Situation eingestellt hat. Wenn man nur ein kleines bisschen nachdenkt, würde man draufkommen, dass in einer Phase, wo sich die Infektionszahlen im Abstand von Tagen verdoppeln, jede Stunde zählt.

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