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Was ist ein Extremereignis?

Ein Forschungsprojekt hat extreme Naturereignisse im Alpenraum seit 1981 analysiert. Und Modelle entwickelt, um besser damit umzugehen.

by Giovanni Blandino

Extreme Naturereignisse haben in der Regel eine sehr lange Wiederkehrzeit: Zwischen einem Ereignis und dem nächsten können Jahrzehnte vergehen. Der Klimawandel verändert jedoch die Situation: Extremereignisse werden häufiger, weshalb man die Art und Weise, sie zu modellieren und bewältigen, überdenken muss.

Sturmtief Vaia gehört zu den Extremereignissen, die in den Alpentälern am stärksten in Erinnerung geblieben sind. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 200 km/h richtete der Sturm in den letzten Oktobertagen 2018 in den Regionen Südtirol, Trentino und Venetien Schäden in Höhe von mehr als fünfzig Millionen Euro an und veränderte die Landschaft massiv. Noch heute sind die Auswirkungen sichtbar. Doch war Vaia nur eines von mehreren Wetterereignissen im Alpenraum – mit sehr unterschiedlichen Merkmalen – , die als „extrem“ eingestuft wurden. Zwischen 2018 und 2020 gab es beispielsweise starke Regenfälle, die Ausmaße wie bei Vaia erreichten, und massive Schneefälle, die Probleme für das Straßennetz verursachten.

© Adobe Stock | Chiara Zeni

Ein Forschungsteam analysierte im Rahmen des TRANSALP-Projekts alle Extremereignisse mit überregionalen Auswirkungen – Ereignisse, von denen Gebiete in Tirol, Südtirol und Venetien betroffen waren – von 1981 bis 2020. Das Ziel: Die Auswirkungen genau zu verstehen und den Verwaltungen Instrumente an die Hand zu geben, damit sie sich bestmöglich darauf vorbereiten und so die Schäden eindämmen können.

Was ist ein „extremes“ Naturereignis?

„Eine gebräuchliche Art, Extremereignisse zu definieren, ist statistisch", erklärt Massimiliano Pittore, Experte für Naturereignisse bei Eurac Research und Koordinator des Projekts: „In der Reihe der Wetterereignisse über einen bestimmten Zeitraum identifizieren wir jene, die vom Durchschnitt abweichen; je mehr sie abweichen, desto seltener werden sie beobachtet. Die extremsten Ereignisse haben in der Regel eine sehr lange Wiederkehrzeit: Zwischen einem Ereignis und dem nächsten können auch viele Jahrzehnte liegen.“

© Adobe Stock | Claudio Colombo

Zwischen 1981 und 2020 gab es fünfzehn Extremereignisse, die sich überregional – auf Tirol, Südtirol und Venetien – auswirkten. Sieben davon fielen jedoch auf die vergangenen zehn Jahre. „Für diesen Zeitraum und dieses Gebiet müssen wir also feststellen, dass sich die Frequenz von Extremereignissen erhöht hat“, erklärt Massimiliano Pittore. Wenn diese Ereignisse aber häufiger auftreten, also „normaler“ werden, ist es dann noch sinnvoll, sie statistisch zu definieren?

„Der Klimawandel verändert die Situation. Es ist zunehmend notwendig, nicht mehr nur auf Notsituationen zu reagieren, sondern vorausschauend zu handeln: Zu verstehen, was passieren könnte und wie man darauf am besten reagiert, aber auch, wie man die Risikovorhersage und -eindämmung weiter verbessern kann.“

Massimiliano Pittore, Experte für Naturgefahren

„Der Klimawandel verändert die Situation. Relativ stabile natürliche Prozesse verändern nach und nach ihren Charakter. So schätzt man etwa, dass in Südtirol ein Niederschlagsereignis mit einer statistischen Wiederkehrzeit von 50 Jahren künftig viermal häufiger auftreten könnte“, warnt Pittore. „Diese neue Situation könnte ein Umdenken bei der Modellierung seltener und extremer Ereignisse erfordern: Sie müssen Eingang in Planungsprozesse finden. Es ist zunehmend notwendig, nicht nur auf Notsituationen zu reagieren, sondern vorausschauend zu arbeiten: Zu verstehen, was passieren könnte und wie man darauf am besten reagiert, aber auch die Risikovorhersage und -eindämmung weiter zu verbessern.“

Extremereignisse und Kaskadenwirkungen

Ein weiteres Kennzeichen von Extremereignissen ist, dass sie eine Reihe direkter und indirekter Auswirkungen auf das Gebiet haben, die manchmal schwer vorhersehbar sind und auch lange Zeit nach dem auslösenden Ereignis auftreten können. Diese werden als Kaskadeneffekte bezeichnet.

„Ereignisse, die wir als extrem betrachten, sind meistens auch in ihren Folgen ausgesprochen komplex“, erklärt Massimiliano Pittore. „Ein Sturm etwa besteht aus einer Reihe von Phänomenen, die gleichzeitig und am selben Ort auftreten können: sehr starker Wind, sintflutartiger Regen, Blitze, Hagel. Dies führt in der Regel dazu, dass es in dem betroffenen Gebiet verstärkt zu Erdrutschen kommt. Wird dadurch eine zentrale Infrastruktur beschädigt, beispielsweise eine wichtige Verkehrsader, kann dies eine Kette von Konsequenzen in einem geografisch ausgedehnten Gebiet auslösen. Ein Extremereignis kann weit entfernt vom eigentlichen Ereignisort zu Schäden und Beeinträchtigungen führen.

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Verkettung der Auswirkungen des Sturms Vaia auf die Wälder. Hier zeigt sich, wie ein Ereignis, das seine größte Schadenswirkung innerhalb weniger Tage (in einigen Fällen innerhalb weniger Stunden) entfaltet, eine komplexe Wirkungskette auslöst, die sich über viele Jahre zieht und daher auch von klimatischen Variablen (etwa Temperatur und Trockenheit) beeinflusst wird.© TRANSALP
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Verkettung der Auswirkungen des Sturms Vaia auf die Wälder. Hier zeigt sich, wie ein Ereignis, das seine größte Schadenswirkung innerhalb weniger Tage (in einigen Fällen innerhalb weniger Stunden) entfaltet, eine komplexe Wirkungskette auslöst, die sich über viele Jahre zieht und daher auch von klimatischen Variablen (etwa Temperatur und Trockenheit) beeinflusst wird.

Selbst Jahre später zeigen sich noch Kaskadenwirkungen eines Extremereignisses. „Nach Vaia etwa hat die große Zahl umgestürzter Bäume, die nicht alle entfernt werden konnten, die Ausbreitung des Borkenkäfers begünstigt – verrottende Bäume bieten diesem Waldschädling besonders günstige Entwicklungsbedingungen. Auch wegen der überdurchschnittlich hohen Temperaturen wird diese Ausbreitung wahrscheinlich in den nächsten zwei Jahren, also fünf Jahre nach dem Sturm, ihren Höhepunkt erreichen", so Pittore.

Andere Auswirkungen betreffen die Gesellschaft, das kulturelle Erbe, die touristische Attraktivität. „Diese Folgen sollte man nicht unterschätzen: Verändert sich die Landschaft in so dramatischem Ausmaß wie durch Vaia, verlieren die Menschen den tiefen Bezug zu einer natürlichen Umwelt, mit der sie seit Jahrhunderten im Einklang lebten.“

Systemisch denken, um besser mit Extremereignissen umzugehen

Wenn Extremereignisse immer häufiger werden, müssen die Verwaltungen daher lernen, die Schäden so gut wie möglich abzufedern. „Der Grat zwischen dem, was man bewältigen kann, und dem, was man nicht mehr bewältigen kann, ist schmal: Mit sehr ähnlichen Extremereignissen kann man sehr unterschiedlich umgehen. Im Falle von Vaia wurden, auch dank hervorragender Einschätzung, Schulen und Arbeitsplätze rechtzeitig geschlossen: Ein Ereignis mit potenziell katastrophalen Folgen konnte so in seinen Auswirkungen begrenzt werden; bei Ereignissen dieser Größenordnung muss man jedoch unbedingt wachsam bleiben.“

„Die Verwaltungen müssen sich bewusst sein, dass Extremereignisse sehr komplex sind und Kaskadeneffekte nach sich ziehen.“

Einen Wendepunkte markiert nach Ansicht der Forscher die Erkenntnis von Seiten der Verwaltungen, dass es sich bei diesen Ereignissen um komplexe Vorgänge mit Kaskadenwirkungen handelt, man die Folgen also auf verschiedenen Ebenen – vom Verkehr bis zur Versorgung mit Strom und Wasser – bewältigen muss. Und es notwendig ist, das gesamte soziale und wirtschaftliche System im Blick zu haben. „Der Systemansatz betrachtet nicht einzelne Faktoren unabhängig voneinander, sondern versucht, die Zusammenhänge und Wirkungsketten zu verstehen“, erklärt Pittore. „Eine solche Betrachtungsweise kann bei Prävention und Eindämmung sehr hilfreich sein.“

Neue Karten und Modelle für ein systemisches Notfallmanagement

Im Rahmen des TRANSALP-Projekts wurden die genauen Auswirkungen der Extremereignisse analysiert – unterteilt in primäre Auswirkungen (Erdrutsche, Überschwemmungen, Murgänge) und sekundäre Auswirkungen (etwa auf den Verkehr oder das Sozialsystem). „Dies ist eine sehr komplexe Aufgabe. Wir haben festgestellt, dass viele Schäden nicht systematisch erfasst werden. Außerdem gehen verschiedene Gebiete (selbst innerhalb des gleichen Landes) in unterschiedlicher Reihenfolge und mit unterschiedlichen Methoden und Protokollen vor. Die Analyse der tatsächlichen Auswirkungen dieser extremen Phänomene ist daher nicht einfach. Und da einige Auswirkungen komplex sind und einen längeren Zeitraum betreffen, stellt sich auch das Problem der Zuordnung“, erklärt Massimiliano Pittore. Mit Hilfe dieser Informationen entwickelt das Forschungsteam neue Modelle für das Risikomanagement, die der systemischen Bedeutung dieser Ereignisse Rechnung tragen.

Die Karte beschreibt die Risikoexposition des Straßennetzes und der Wohnbevölkerung in der Region Bozen. Die Informationen über die Bevölkerung werden auf sechseckigen Zellen mit einer Diagonale von etwa 250 m aggregiert, um die Berechnungen effizient zu gestalten. Auf diese Weise können aber auch kleine städtische Ballungsräume hervorgehoben werden, wie die Abbildung oben rechts zeigt (das Dorf Bauernkohlern bei Bozen).© TRANSALP

Karten, auf denen sichtbar ist, wo sich die Bevölkerung während des Tages hauptsächlich aufhält – wo sich etwa die meisten Arbeitsstätten befinden – , wo über Nacht, und welche Straßen hauptsächlich genutzt werden, um zur Arbeit zu pendeln, können beispielsweise dazu beitragen, die Notsituation bei einem Extremereignis besser zu bewältigen. So wie man Risiken besser bewerten kann, wenn man genaue Angaben über vorhandene Schutzwälder hat. Ebenso lassen sich mögliche Folgen eines Extremereignisses präziser vorhersagen, wenn man die Funktionen von eventuell beschädigten Infrastrukturen kennt.

Die Karte zeigt, wie sich die Wohnbevölkerung zum Zeitpunkt des Berufspendelns in der Provinz Bozen verteilt. Diese Informationen können helfen, die Auswirkungen eines Extremereignisses auf das soziale und produktive System vorherzusagen. Oben rechts ist ein Ausschnitt aus dem Gebiet Bozen zu sehen, der die am stärksten vom Berufsverkehr betroffenen Stadtteile zeigt.© TRANSALP

Solche Modelle liefern nicht nur Informationen zu den direkt betroffenen Gebieten, sondern vermitteln auch eine gute Vorstellung von den Auswirkungen auf angrenzende Regionen: Welche Gebiete könnten beispielsweise Beeinträchtigungen erfahren, falls eine Verbindungsstraße beschädigt wird? „Instrumente dieser Art würden zu einem Paradigmenwechsel bei der Bewältigung von Extremereignissen beitragen, mit einem zunehmend systemischen Ansatz“, so Pittore. „Sie wären auch ein wertvolles zusätzliches Hilfsmittel für den Zivilschutz, um sich besser auf die Folgen von Extremereignissen und mögliche Notfallmaßnahmen wie Evakuierungen vorzubereiten.“

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Das Projekt TRANSALP

Grenzüberschreitende Sturmrisiko- und Folgenabschätzung im Alpenraum

Ziel des TRANSALP-Projekts ist es, eine integrierte, mehrere Gefahren umfassende Methodik zur Bewertung von Sturmrisiken und zur Vorhersage von Auswirkungen bereitzustellen, die auf die Katastrophenschutzbehörden in grenzüberschreitenden Bergregionen zugeschnitten ist. Aktuelle Ansätze zur Bewertung des Multi-Gefahren-Risikos und Kartierungstechniken für sozio-ökonomische Güter und ihre Verwundbarkeit werden kritisch hinterfragt, um Entscheidungsprozesse für die Prävention von Katastrophenrisiken in Berggebieten der Europäischen Union voranzubringen und die Kooperation auf Basis gemeinsamer Standards zu fördern. Das Projekt wird von der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms UCPM-2020-PP-AG (Präventions- und Vorbereitungsprojekte für Katastrophenschutz und Meeresverschmutzung) finanziert. Eurac Research ist der führende Partner innerhalb eines grenzüberschreitenden Konsortiums, an dem auf italienischer Seite noch EPC Srl und ARPA Venetien und aus Österreich ZAMG und BFW beteiligt sind.

https://www.eurac.edu/de/institutes-centers/institut-fuer-erdbeobachtung/projects/transalp

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