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Das Ende der Berechenbarkeit

Klimabedingte Gefahren vorherzusagen ist durch den Klimawandel komplexer denn je geworden. Ein Forschungsteam von Eurac Research hat im Auftrag der UNO einen offiziellen Leitfaden für umfassende Risikobewertung in Zeiten des Klimawandels verfasst.

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Katastrophale Flut: Das Hochwasser in Westdeutschland im Sommer 2021 führte dramatisch vor Augen, dass auch in Europa klimabedingte Gefahren heftiger und komplexer werden. In der Ortschaft Schuld wurden ganze Häuser weggeschwemmt.

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by Barbara Baumgartner

Zwischen 1998 und 2017 sind weltweit mehr als 553.000 Menschen durch extreme Wetterereignisse umgekommen und klimabedingte Schäden von mindestens 1,9 Billionen Euro entstanden, schätzt das UN-Büro zur Reduktion von Katastrophenrisiken, UNDRR. Durch den Klimawandel werden Gefahrereignisse häufiger und heftiger, lösen zunehmend komplexe Risikokaskaden aus. Vorausschauendes Risikomanagement bedarf deshalb mehr denn je einer umfassenden, systemischen Analyse. Eine offizielle Anleitung dafür hat UNDRR gerade veröffentlicht – verfasst von einem Team rund um den Klimafolgenforscher Marc Zebisch.

Wie ist es zu diesem Auftrag gekommen?

Marc Zebisch:UNDDR, also das UN-Büro zur Reduktion von Katastrophenrisiken, und UNFCCC, die UN-Abteilung, die sich mit Klimawandel befasst, haben gemeinsam so eine Anleitung gefordert, weil ihnen bewusst geworden ist, dass sie ihre bislang getrennten Welten in der aktuellen Situation enger verschränken müssen: Immer mehr Katastrophen hängen direkt oder indirekt mit dem Klimawandel zusammen, die Risiken werden immer komplexer, und die bisherige Vorgehensweise der Risikobewertung funktioniert nicht mehr.

In welchem Sinne?

Zebisch: Bislang ist man beim Umgang mit Naturgefahren von stabilen Statistiken ausgegangen. Etwa beim Management von Hochwasserrisiken: Als Grundlage der Planung dient ein Extremereignis, wie es zum Beispiel nur alle 100, 200 oder 300 Jahre auftritt, also mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit. An diesem richtete man die Schutzvorkehrungen aus.

Es reicht immer weniger aus, sich auf einzelne Gefahren vorzubereiten, weil zunehmend mehrere Gefahren gemeinsam eintreten, es zu komplexen Verkettungen kommt.

Marc Zebisch

Man orientierte sich also an Ereignissen der Vergangenheit, um sich für die Zukunft zu wappnen. Mit dem Klimawandel funktioniert das nicht mehr, Hochwasserereignisse werden intensiver, man kann Naturgefahren nicht mehr mit einer stabilen Statistik behandeln. Außerdem sehen wir, dass es immer weniger ausreicht, sich auf einzelne Gefahren vorzubereiten, weil zunehmend mehrere Gefahren gemeinsam eintreten, es zu komplexen Verkettungen kommt. Das gab es zwar immer schon – Starkregen etwa löst häufig Überflutungen und Erdrutsche aus – aber es wird durch den Klimawandel viel massiver. Ein Beispiel war der Sturm Vaia, darauf war Südtirol nicht vorbereitet.

Was ist da alles zusammengekommen?

Zebisch: Da war einmal der Starkregen – auf den war man vorbereitet, die Feuerwehr hatte sich darauf eingestellt, dass Bergbäche über die Ufer treten werden. Solche Wassermassen lösen dann Rutschungen, Schlammfluten etc. aus. Der Sturm, obwohl eigentlich vorhersehbar, wurde nicht erwartet, da gab es keinen Warnmechanismus. 6000 Hektar Wald wurden zerstört. Solche Ereignisse können weitreichende Folgen haben: Bäume blockieren Straßen, womit Dörfer isoliert werden, oder sie fallen auf Strommasten, der Strom fällt aus, das Handynetz ist unterbrochen … Das läuft dann in Kaskaden ab, deshalb spricht man von Kaskadenrisiken. Die Flutkatastrophe in Deutschland war auch so ein Fall: Die tollen Warn-Apps haben nicht funktioniert, weil das Handynetz zusammengebrochen ist, Krankenhäuser, in die man eigentlich Verletzte bringen wollte, mussten im Gegenteil evakuiert werden, weil auch sie vom Hochwasser bedroht waren, die Fluten haben das Kanalsystem überlaufen lassen, wodurch das Trinkwasser verschmutzt wurde.

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Gefahrenkaskaden: Am Anfang stehen Sturm und Starkregen, am Ende können die Folgen systembedrohend sein. Für eine umfassende Risikoanalyse werden die komplexen Zusammenhänge und Wechselbeziehungen in Wirkungsketten dargestellt.

Gefahrenkaskaden: Am Anfang stehen Sturm und Starkregen, am Ende können die Folgen systembedrohend sein. Für eine umfassende Risikoanalyse werden die komplexen Zusammenhänge und Wechselbeziehungen in Wirkungsketten dargestellt.

Das sind zunehmend komplexe Risiken, die aus einer Verkettung von Gefahren, Verwundbarkeit und Exposition entstehen, und die man als systemische Risiken verstehen muss – im Extremfall können Systeme kollabieren. Bei unserer Methode der Risikoanalyse stellen wir die Vielzahl von Zusammenhängen und Wechselbeziehungen in Wirkungsketten dar – das führt sehr klar vor Augen, welche Faktoren das Risiko in welcher Weise beeinflussen.

Das können unerwartete Dinge sein: Sie haben einmal von einer Klimarisikoanalyse in Tadschikistan erzählt, bei der sie herausfanden, dass das miserable Banksystem ein beträchtliches Problem darstellte –weil die Menschen den Banken nicht trauten, legten sie ihr Erspartes in Ziegen an, weshalb viel zu viele Tiere die kargen Weiden strapazierten, was zu Erosion führte …

Zebisch: Wie wichtig es beim Umgang mit Naturrisiken ist, das Gesamtsystem zu betrachten, gesellschaftliche und politische Faktoren ebenso wie ökologische, hat die Wissenschaft schon länger erkannt. Durch den Klimawandel ist dies aber noch viel dringlicher geworden.

Risikoanalysen sind wie die Arbeit eines Arztes: Um eine Therapie zu entwickeln, muss man eine möglichst exakte Diagnose stellen.

Marc Zebisch

Der jetzt veröffentlichte Leitfaden strebt deshalb eine umfassende und systemische Methode an, es wird eine große Vielzahl an Elementen einbezogen. Zentral sind zum Beispiel bestehende Entscheidungsmechanismen und Governance-Prinzipien. Eine Risikobewertung findet ja nicht im luftleeren Raum statt, es geht jeweils um eine ganz spezifische Realität, mit spezifischen Werten, Zielen, Normen. Also im Ergebnis sollte man einer Regionalverwaltung zum Beispiel sagen können: Diese Risiken drohen eurem Gebiet, und um damit umgehen zu können, müsst ihr diese und jene bestehenden Regeln oder Verfahren in folgender Weise abändern. Ich vergleiche solche Risikoanalysen immer mit der Arbeit eines Arztes: Um eine Therapie zu entwickeln, muss man eine möglichst exakte Diagnose stellen, und dazu gehört die Vorgeschichte des Patienten.

Soweit die Leitlinien - was sind die Herausforderungen bei der praktischen Umsetzung?

Zebisch: In entwickelten Ländern ist es wahrscheinlich die sich durch alle Ebenen ziehende Trennung der Systeme „Katastrophenschutz“ und „Klimaanpassung“, beide mit ihren eigenen etablierten Verfahren und Normen. So etwas aufzubrechen ist sehr kompliziert. In Entwicklungsländern dagegen muss man die Systeme erst aufbauen, das hat den Vorteil, dass man dabei gleich beide Aspekte verschränken kann. Eine andere Herausforderung liegt darin, dass Gefahrenmanagement bislang sehr datengetrieben ist, sich auf Statistiken und Wiederkehrwahrscheinlichkeiten stützt. Angesichts der Komplexität, die der Klimawandel gebracht hat, ist dieses Arbeiten nur mit Zahlen unmöglich geworden. Entscheidungen ergeben sich nicht mehr einfach zwingend aus irgendwelchen Berechnungen. Mit so komplexen Risiken umzugehen, verlangt auch Vorgehensweisen wie in der Sozialpolitik, also da muss man sehr viele qualitative, narrative Informationen integrieren, vulnerable Gruppen berücksichtigen, ökonomische Sektoren …

Im Risikomanagement ist also ein Umdenken verlangt?

Zebisch: Ja, es geht darum, systemischer zu denken – und sich von der Idee der Berechenbarkeit zu verabschieden.

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