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„Womöglich war Ötzi ein fieser Kerl?“

Gespräche zwischen Disziplinen: Der Mumienforscher Albert Zink und der Ingenieur der Telekommunikationstechnik Christian Steurer im Interview.

by Barbara Baumgartner, Sigrid Hechensteiner

Diese Frage wird offenbleiben, andere Geheimnisse hat Mumienforscher Albert Zink dem Mann aus dem Eis schon entlockt. Weil die schmelzenden Gletscher wohl noch mehr Funde freigeben werden, gefällt ihm die Idee, sich auf Ausgrabungen in eisigen Höhen im terraXcube vorzubereiten: Der Extremklimasimulator kann jede Klimabedingung der Welt reproduzieren. Direktor Christian Steuer hält das für realistisch: Schon jetzt proben etwa Bergretter im terraXcube den Einsatz bei Extremwetter. Vor allem ist der Klimasimulator aber ein wertvolles Instrument für die medizinische und ökologische Forschung.

Beginnen wir mit Ihrem gemeinsamen Standort: Dass der terraXcube im NOI-Techpark angesiedelt ist, einem Zentrum für Innovation, wird niemanden überraschen – aber wie passt die Mumienforschung da hin, Herr Zink?

Albert Zink: Zugegeben, man bringt Mumien nicht zwingend mit Innovation in Verbindung, aber wie wir Mumienforschung betreiben, ist doch äußerst innovativ. Zum einen entwickeln wir nämlich vor allem in der Molekularbiologie und Genetik ganz spezielle Methoden, um genetische Informationen zu gewinnen – so können wir zum Beispiel untersuchen, an welchen Krankheiten Menschen litten, oder wie ihre Darmflora aussah, und der Vergleich mit heute lebenden Menschen lässt uns dann Entwicklungen erkennen und verstehen, wie der Mensch sich im Lauf der Geschichte angepasst hat. Zum anderen entwickeln wir auch ganz neue methodische Ansätze zur Konservierung von Mumien, die dann eigentlich auf jedes organische Material übertragbar sind, ob es nun Bücher sind, die konserviert werden sollen, oder Lebensmittel.

Verdankt es sich diesen innovativen Methoden, dass Ihr Labor für antike DNA so viele externe Aufträge erhält? Die Einnahmen daraus waren zuletzt höher als die jedes anderen Instituts von Eurac Research.

Zink: Ja, die Anfragen betreffen meist solche Analysen. Vielfach werden wir zum Beispiel gebeten, Mumien- oder Skelettfunde genetisch zu untersuchen, um etwa ein Verwandtschaftsverhältnis zu klären, oder auch die Herkunft: Bei Mumien wissen Museen nämlich häufig gar nicht, ob sie aus Ägypten oder Südamerika stammen. Oder ein Museum merkt, dass es ein Problem mit der Konservierung seiner Funde hat, und wendet sich deshalb an uns. Wir sind eines von sehr wenigen Mumienforschungsinstituten auf der Welt, besetzen also eine Nische.

Auch der terraXcube gilt als ziemlich einzig in seiner Art, Herr Steurer: Was macht ihn so besonders?

Christian Steurer: Im terraXcube können wir alle Klimabedingungen der Welt erzeugen, auch die extremsten: Wir können eine Höhe von 9000 Metern simulieren, Temperaturen von minus 40 bis plus 50 Grad schaffen, jede gewünschte Luftfeuchtigkeit, Wind, Regen, Schnee. Und alle Parameter nach Bedarf kombinieren: Neulich haben wir bei minus 40 Grad zusätzlich starken Wind generiert – gefühlt waren das dann minus 60 Grad.
Extreme klimatische Bedingungen im Labor zu schaffen, also kontrolliert und nach Belieben reproduzierbar, ist unter anderem für die höhenmedizinische Forschung von großer Bedeutung: Bei Untersuchungen im Feld sind die Bedingungen für die Probanden jeweils so unterschiedlich, dass Messergebnisse wenig Aussagekraft haben. In unserer Klimakammer können alle den exakt gleichen Bedingungen ausgesetzt und dabei ständig medizinisch überwacht werden.

Schildern Sie uns eine Studie aus jüngerer Zeit?

Steurer: Für eine Schlafstudie hat ein Forschungsteam des Instituts für alpine Notfall- und Höhenmedizin 16 Menschen zehn Tage in 4000 Meter Höhe übernachten lassen und dabei ihre Atmung beobachtet; in großer Höhe kommt es nämlich normalerweise zu Atmungsstörungen im Schlaf, und die Studie will klären, ob man dies zum Beispiel durch die künstliche Zugabe von Kohlendioxid reduzieren kann. Noch sind die Ergebnisse nicht ausgewertet, doch es gab eine interessante Erkenntnis am Rand: Die Klimakammer ist ja nicht gerade heimelig: ein großer, nackter, mit Edelstahl ausgekleideter Raum; am Beginn der Untersuchung haben wir da einfach Betten reingestellt, bis jemand auf die Idee kam, den Probanden mit holzverkleideten Boxen ein angenehmeres Ambiente zu schaffen – und tatsächlich schliefen sie sofort besser.

Der Simulator dient aber nicht nur der medizinischen Forschung ...

Steurer: Nein, wir machen beispielsweise auch sehr viele Tests, das geht von Bekleidung bis zu großen landwirtschaftlichen Maschinen. Sehr spannend war vor Kurzem ein Versuch mit einer Drohne, bei dem wir eine Vereisung des Rotors herbeiführten: Passiert so etwas in Wirklichkeit, kann das verheerende Folgen haben, es gilt deshalb, technische Lösungen zu entwickeln, damit solche Geräte auch unter extremen Bedingungen einsatzfähig bleiben. Den Extremfall simuliert haben wir auch bei einem Training mit Bergrettungskräften: die Wiederbelegung von Verunglückten bei heftigem Sturm. Wie kommuniziere ich bei ohrenbetäubendem Wind? Welche Geräte eignen sich? Im terraXcube kann man sich auf solche Einsätze vorbereiten und sie damit sicherer und erfolgreicher machen.

Ötzi wurde in großer Höhe gefunden, und in den vergangenen Jahren haben die schmelzenden Gletscher immer wieder menschliche und tierische Überreste freigegeben: Herr Zink, könnten Sie sich vorstellen, dass auch Archäologen und Mumienforscher im terraXcube den Einsatz in Schnee und Eis trainieren?

Zink: Durchaus. Mit dem Gletscherrückgang wird die Wahrscheinlichkeit archäologischer Funde im Hochgebirge eher zunehmen, und dann sollte man bereit sein, dort eine richtige Ausgrabung zu machen, und gegebenenfalls auch länger zu verweilen. Ötzi wurde viel zu schnell geborgen und dadurch auch beschädigt. Für Mumienexperten oder Archäologen sind die Bedingungen in großer Höhe ja nicht das tägliche Brot – wir arbeiten normalerweise eher in Museen oder Labors; ein spezielles Training wäre deshalb sicher sinnvoll.
Aber der Klimasimulator könnte für unsere Forschungsarbeit noch in anderer Hinsicht interessant sein: Er könnte uns helfen, die Mumifizierungsprozesse besser zu verstehen, indem wir solche Prozesse simulieren – beim Ötzi zum Beispiel wissen wir noch immer nicht genau, wie die Mumifizierung im Gletscher abgelaufen ist. Außerdem könnte man im Klimasimulator gut testen, welche klimatischen Bedingungen ideal für die Konservierung von Mumien sind. Die große Herausforderung besteht ja darin, bei einem Fund sofort richtig zu handeln, also ihn in die richtige Umgebungstemperatur und Feuchtigkeit zu bringen, damit keine Informationen verloren gehen, auch nicht auf sehr kleiner, auf molekularer Ebene.

Ötzi haben Sie ja gerade auf dieser Ebene noch überraschend viel Information entlocken können – aufsehenerregend war etwa der Nachweis des Magenkeims Helicobacter pylori.

Zink: In diesem Fall hat unsere Untersuchung sogar fest etablierte Vorstellungen ins Wanken gebracht. Man war immer davon ausgegangen, dass die neolithischen Einwanderer, die Europa besiedelten, schon die heute in Europa auftretende Variante des verbreiteten Krankheitserregers in sich trugen. Im 5300 Jahre alten Ötzi haben wir aber noch eine ursprüngliche Variante gefunden, die man heute eher in Indien verorten würde. Die Besiedelungsgeschichte Europas war also wohl komplexer, als bisher angenommen.
Wenn wir Mumien oder Skelettfunde untersuchen, können wir sozusagen einen unmittelbaren Blick in die Vergangenheit werfen, und dadurch auch die Evolution von Krankheitserregern besser verstehen – woher sie kommen, wie sie sich an den Menschen angepasst haben. Das kann dann auch der aktuellen medizinischen Forschung dienen. Wir forschen zum Beispiel viel zu Tuberkulose, Malaria und Syphilis, und sind immer im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in der Klinik, die es mit heutigen Fällen zu tun haben – das sind ja alles Krankheiten, die trotz allen medizinischen Fortschritts noch sehr präsent sind. Gemeinsam hoffen wir, auf etwas zu kommen, das uns wieder ein Stück voranbringt. Noch ist die Medizin nämlich weit davon entfernt, solche Erreger ohne Weiteres in den Griff zu bekommen – das hat ja auch Corona wieder gezeigt.

© Eurac Research | Tiberio Sorvillo

"Mithilfe einer Vielzahl von Parametern können wir sozusagen Klimawandel im Zeitraffer ablaufen lassen."

Christian Steurer

Herr Steurer, den Mumienforschern wird der Klimawandel aller Voraussicht nach mehr Forschungsobjekte bescheren, haben wir erfahren. Wie beschäftigt das Thema Sie? Simulieren Sie im terraXcube die Erderwärmung?

Steurer: Ja – und zwar beschleunigt, um die Auswirkung der Veränderungen auf pflanzliche Organismen zu untersuchen. Wir haben die Möglichkeit, in vier Kammern unterschiedliche klimatische Bedingungen zu erzeugen, und so die Wirkung zu vergleichen. Im vergangenen Jahr hat ein Forschungsteam der Universitäten von Bozen und Innsbruck untersucht, wie verschiedene Temperatur-, Feuchtigkeits- und Lichtverhältnisse sich auf Weinreben auswirken. In den kleinen Kammern lässt sich nämlich auch das Licht verändern. Für die Bewässerung haben wir eine Vorrichtung, die Regenwasser sammelt, und wir können zum Beispiel Kohlendioxid in die Kammern einspeisen, um den Gehalt in der Luft zu verändern. Mithilfe all dieser Parameter können wir sozusagen Klimawandel im Zeitraffer ablaufen lassen. In weiteren Untersuchungen sollen die Reben dann unterschiedlichen Höhen ausgesetzt werden, um zu untersuchen, wie sich dies auswirkt; wegen der Erwärmung werden viele Pflanzen ja in höheren Lagen gedeihen bzw. in die Höhe wandern.

Welche großen Zukunftsthemen sehen Sie neben dem Klimawandel für den terraXcube?

Steurer: Stark beschäftigen wird uns ganz sicher der gesamte Bereich Elektromobilität. Elektroautos, E-Busse, Gerätschaften, die mit Elektroantrieb funktionieren, vielleicht auch unter extremen Bedingungen funktionieren müssen. Auf der anderen Seite tut sich im medizinischen Sektor ein großes Feld auf. Bisher wurde im terraXcube nur Forschung an gesunden Menschen betrieben; ein nächster Schritt könnten klinische Studien zu Krankheiten sein, bei denen Faktoren, wie wir sie im terraXcube produzieren können, eine Rolle spielen, etwa im Bereich Hypoxie. Da sehe ich sehr viel Potenzial für die Zukunft.

© Eurac Research | Tiberio Sorvillo

"Ötzis Mikrobiom war noch deutlich vielfältiger als unseres heute."

Albert Zink

Ein zukunftsträchtiges medizinisches Thema beschäftigt auch Ihr Institut seit ein paar Jahren intensiv, Herr Zink: das menschliche Mikrobiom.

Zink: Die Mikrobiom-Forschung ist in der Tat sehr aktuell, denn der Wissenschaft wird immer klarer, wie wichtig die Gemeinschaft der in uns und mit uns lebenden Bakterien und anderen Mikroorganismen für unsere Gesundheit ist. Viele Krankheiten und Allergien scheinen in direktem Zusammenhang mit einer abnehmenden Vielfalt des menschlichen Mikrobioms vor allem in industrialisierten Gesellschaften zu stehen. Wir haben uns das anhand von Magenmaterial Ötzis genauer angeschaut, und schon die ersten Ergebnisse zeigen, dass seine Bakteriengemeinschaft noch deutlich vielfältiger als unsere heutige war. Solche Analysen machen wir auch an anderen Mumien. Unsere Ergebnisse vergleichen wir dann zum Beispiel mit Untersuchungen, die bei indigenen Völkern gemacht wurden. Die Frage ist ja, was man daraus für die Bevölkerung heute lernen kann. Müssen wir beispielsweise zu einer natürlicheren Ernährung zurück? Den Zusammenhang mit der Ernährung erforschen wir derzeit an konservierten Ausscheidungen im prähistorischen Salzbergwerk Hallstatt. Dort sind solche Koprolithen sehr gut erhalten, wir haben also reiches Forschungsmaterial: Würden wir uns auf Mumien beschränken, hätten wir eher wenige Proben, denn viele haben keinen Magen-Darm-Inhalt mehr. Ötzi war da ein Glücksfall.

Mit Ötzi haben Sie sich nun so lange und intensiv befasst: Wenn Sie ihm gegenüberstehen könnten, was wären ihre drängendsten Fragen?

Zink: Als erstes würde ich ihn nach seinem Namen fragen. Und dann würde mich natürlich interessieren, was für eine Position in der Gesellschaft er innehatte, und was für ein Typ er war. Man neigt bei Mumien ja dazu, sie positiv zu sehen. Das war bestimmt ein guter Mensch, der Ötzi, denken wir: Und jetzt liegt er hier, der Arme. Womöglich war er aber ein fieser Kerl, den der Pfeil gar nicht unverdient traf? (lacht)

Christian Steurer

Christian Steurer ist Leiter des Zentrums für Extremklima-Simulation terraXcube. Der Ingenieur der Telekommunikationstechnik hat unter anderem das Institut für Angewandte Fernerkundung von Eurac Research mitbegründet und geleitet und war mehrere Jahre lang Direktor der Abteilung Informatik des Südtiroler Sanitätsbetriebes. Angeregt durch die Tätigkeit im Sanitätsbetrieb und die enge Zusammenarbeit mit Forschungsteams des Institutes für Alpine Notfallmedizin, ist er seit 2020 mit Begeisterung freiwilliger Rettungssanitäter beim Weißen Kreuz.

Albert Zink

Albert Zink ist Anthropologe und assoziierter Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 leitet er das Institut für Mumienforschung von Eurac Research. Die Leidenschaft für Mumien hat ihn nicht mehr losgelassen, seit er sich bei seinem Studium der Biologie in München zum ersten Mal mit ihnen befasste. Er erforscht nicht nur die Gletschermumie Ötzi, sondern Mumien in der ganzen Welt, darunter die berühmten ägyptischen Könige Tutanchamun und Ramses III. Wenn er die Mumien ruhen lässt, greift er zur Gitarre und spielt Jazz oder seine eigenen Lieder.

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