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© Eurac Research | Andreas Hilpold

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Die Südtiroler Steppeninseln

Besondere Lebensräume – oft unterschätzt, dabei essenziell für die europäische Artenvielfalt

by Laura Defranceschi

Der Vinschger Sonnenberg ist mit seinen steilen sonnenexponierten Hängen und den geringen Niederschlagsmengen ein isoliertes inneralpines Steppengebiet. Was ihn so spannend für die Forschung macht und warum er besonders schützenswert ist, erfahren wir im Gespräch mit den beiden Botanikern Andreas Hilpold (Eurac Research) und Thomas Wilhalm (Naturmuseum Südtirol).

Geht es um Steppengebiete, hat man die unendlich weiten asiatischen Landschaften vor Augen – was ist an den kleinen inneralpinen Trockenrasengebieten so spannend?

Thomas Wilhalm: Im Prinzip hat man immer schon gewusst, dass die inneralpinen Trockenrasen kleine Vegetationsinseln inmitten einer ansonsten ganz anders gestalteten Landschaft sind: Da sind Gletscher, Nadelwälder, Auwald am Talboden und plötzlich – lokal begrenzt – verhagerte steppenartige Hänge. Nach der Eiszeit hat es Korridore gegeben, wo die Steppenpflanzen eingewandert sind. Sie haben sich bis zum heutigen Tag gehalten, weil das Mikroklima äußerst trocken ist und weil der Mensch durch Beweidung durch zusätzliche Standorte geschaffen hat. Botanikerinnen und Botaniker bemerkten schon vor 200 Jahren, dass hier Arten vorkommen, die erst wieder in der ungarischen Steppe, in Sibirien und am Schwarzen Meer beheimatet sind. Als im 20. Jahrhundert der Naturschutz an Bedeutung gewann, hat man die große naturkundliche Bedeutung dieser „Steppeninseln“ in den Alpen erkannt.

Viele Leute fragten sich, was daran schön sein soll. Anders als bei hochalpinen Landschaften oder urigen Waldgebieten hat man nicht verstanden, warum man diese Trockenrasen unter Schutz stellen sollte. Aus Naturschutzsicht ist es aber höchste Eisenbahn.

Thomas Wilhalm, Konservator für Botanik am Naturmuseum Südtirol

Man hat gesehen, dass sich durch den menschlichen Raubbau über die Jahrhunderte – und das sieht man vor allem im Vinschgau gut – diese ursprünglich kleineren Bereiche, wo die Steppenflora überlebt hatte, ausgedehnt haben. Und viele Leute fragten sich, was daran schön sein soll. Anders als bei hochalpinen Landschaften oder urigen Waldgebieten hat man nicht verstanden, warum man diese Trockenrasen unter Schutz stellen sollte. Und das geht bis heute so. Vom Naturschutz her ist es höchste Eisenbahn, dass man sie angemessen bewirtschaftet, das heißt, sie einer kontinuierlichen aber sanften Beweidung zuführt.

Gibt es aus der Forschung der letzten Jahre überraschende Erkenntnisse?

Andreas Hilpold: Eine Studie, an der wir mitgearbeitet haben, zeigt, dass die Steppenpflanzen und -tiere hier genetisch sehr eigenständig sind. Und zwar so eigenständig, dass diese Populationen im Alpenraum schon seit hunderttausenden von Jahren von den Ursprungsgebieten, den zentralasiatischen Steppen, isoliert sein müssen. Diese genetische Eigenständigkeit erhöht den Naturschutzwert dieser Steppeninseln enorm. Denn das zeigt uns: Wenn diese Steppeninseln verloren gehen, geht nicht etwa etwas verloren, was in ganz Zentralasien sowieso häufig ist, sondern es geht etwas Einzigartiges verloren. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis aus Naturschutzsicht.

Wenn diese Steppeninseln verloren gehen, geht nicht etwa etwas verloren, was in ganz Zentralasien sowieso häufig ist, sondern es geht etwas Einzigartiges verloren.

Andreas Hilpold, Botaniker – Eurac Research

Durch die klimatischen Veränderungen werden weniger Niederschläge, Trockenheit und höhere Temperaturen vorhergesagt. Erhalten oder vergrößern sich dadurch die Trockenrasengebiete nicht von allein?

Hilpold: Laut botanischen Lehrbüchern ist unter 400 Millimetern Jahresniederschlag kein Waldwachstum möglich. Laas im Vinschgau, was so ziemlich eines der trockensten Gebiete ist, weist immer noch 500 Millimeter auf. Das heißt, dass diese Steppeninseln von Natur aus wirklich auf Standorte begrenzt sind, wo die Bodenauflage kein Wachstum von Bäumen zulässt. Das Klima würde unterhalb der natürlichen Waldgrenze allerorts Waldwachstum zulassen. Ob sich das mit dem Klimawandel grundlegend ändern wird, bezweifle ich. Was sich sicherlich verändern wird, sind die Waldtypen und die Höhengrenzen einzelner Baumarten.

Ein Ausblick auf die Forschungsarbeit in den kommenden Jahren?

Hilpold: Wichtig ist die botanische und zoologische Erforschung des Vinschger Sonnenberges. Es zeigt sich jetzt schon bei den Erhebungen des Biodiversitätsmonitoring Südtirol, dass wir hier immer wieder neue Arten finden. Wir kennen Tagfalter und Gefäßpflanzen in diesem Lebensraum recht gut, es ist aber noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Wir sind eigentlich noch – vor allem, was unscheinbare Organismengruppen betrifft – ganz am Anfang. Und nachdem wir eine so große Verantwortung über einen so besonderen Lebensraum haben, ist es wichtig, dass wir ihn gut erforschen und wissen, was wir zu schützen haben und was wir erhalten möchten.

Das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht erreicht. Wir sind eigentlich noch – vor allem, was unscheinbare Organismengruppen betrifft – ganz am Anfang.

Andreas Hilpold

Wilhalm: Es braucht eine kontinuierliche Erforschung, auch im Hinblick auf mögliche Veränderungen. Der Sonnenberg ist für mich das klassische Beispiel einer sehr schwierigen Naturschutzpolitik. In Deutschland, in Gebieten, wo der Wald sofort wieder käme, bemüht man sich auch mit Transhumanz, also mit der alten traditionellen Wanderweidewirtschaft, wieder die über die Jahrhunderte entstandenen Trockenweiden zu erhalten. Man nimmt dort auch viel Geld in die Hand. Am Vinschger Sonnenberg haben wir den „Vorteil“, dass die Prozesse der natürlichen Wiederbewaldung viel länger dauern. Denken wir allerdings in Jahrhunderten, wird aber ein großer Teil unserer Trockenrasen verschwunden sein, wenn wir keine Maßnahmen setzen.

Die Vinschger Bevölkerung ist ja interessiert daran, „ihren“ Sonnenberg möglichst gut zu erhalten. Maßgeschneiderte Beweidungskonzepte sind gefragt.

Thomas Wilhalm

Wer also soll oder muss was genau tun?

Wilhalm: Es ist ein klassisches Zusammenspiel aller: Das Bewusstsein um den hohen naturkundlichen Wert dieser Flächen muss gestärkt werden – in der Bevölkerung, bei den Landnutzern, in der Politik und in der Verwaltung. Die Vinschger Bevölkerung ist ja interessiert daran, „ihren“ Sonnenberg möglichst gut zu erhalten. Es wäre wünschenswert, wenn man im Tal selbst eine Anlaufstelle für die Thematik einrichten könnte. Es liegt in unserer Hand, ob wir diesen für Mensch und Natur attraktiven Lebensraum erhalten und gebührend wertschätzen wollen. Hilpold: Natürlich ist der Erhalt dieser Trockenhänge ein ganz wichtiger Aufgabenbereich für den Südtiroler Naturschutz. Dafür sollte man in Zukunft Ressourcen oder auch Strukturen vorsehen. Die genauen Rezepte, wie man diese Gebiete erhalten kann, müssen in enger Zusammenarbeit mit den einzelnen Gemeinden und der Land- und Forstwirtschaft erarbeitet werden. Wilhalm: Ganz sicher brauchen wir maßgeschneiderte Beweidungskonzepte, die von allen Beteiligten mitgetragen werden können. Immerhin hat der Vinschger Sonnenberg südtirolweit mit seinen Steppenrasen ein Alleinstellungsmerkmal, und daher sollten wir Vinschgerinnen und Vinschger uns auch entsprechend damit identifizieren und uns bemühen. Es liegt in unserer Hand.

Thomas Wilhalm ist Botaniker, genauer genommen ist er Konservator für Botanik am Naturmuseum Südtirol und Koordinator der Florenerhebung des Landes. In dieser Funktion betreut er auch die naturkundliche Datenbank des Museums.

Andreas Hilpold ist Biologe mit Schwerpunkt Botanik. Er forscht am Institut für Alpine Umwelt von Eurac Research und koordiniert das Biodiversitätsmonitoring Südtirol, das im Auftrag des Landes die biologische Vielfalt in ganz Südtirol systematisch und langfristig untersucht.

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Die Tagung zum Thema

Gesammelte Forschungserkenntnisse zu Flora und Fauna in alpinen Trockenrasengebieten im Vinschgau und in der Terra Raetica – im Dreiländereck Österreich, Schweiz, Italien – wurden erstmals auf der Tagung „Lebendige Steppe“ am 6. Mai 2022 in Schlanders von Expertinnen und Experten vorgestellt und diskutiert. Organisiert wurde sie von Eurac Research mit dem Amt für Natur, dem Naturmuseum Südtirol und der Gemeinde Schlanders.

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