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Schwanengesang der Erde

Was Thermokarstseen über den Permafrost aussagen und warum die Erwärmung des Bodens uns noch mehr beunruhigen sollte als jene der Luft

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Thermokarstseen auf der tibetischen Hochebene in der chinesischen Provinz Qinghai.

© null | Raul-David Șerban

Raul-David Șerban
by Valentina Bergonzi

Was sind Thermokarstseen? Warum ist die Überwachung des Permafrosts so wichtig? Und wie überwachen wir die Temperatur der obersten Bodenschicht (GST - Ground Surface Temperature)? Antwort auf diese Fragen gibt der Geograf Raul Serban, der uns auf eine Forschungsreise mitnimmt: von der tibetischen Hochebene in der chinesischen Provinz Qinghai bis zu den Alpen. Spoiler: Im Matschertal wird ein globales Vorhersagemodell entwickelt.

Das Dorf Ye'niugou liegt schon mindestens 25 Minuten zurück, als der Pickup neben dem Highway G214 anhält. Raul steigt aus, zieht seine Windjacke zu und geht langsam über das knisternde Gras unter seinen Stiefeln. Schon nach wenigen Schritten fällt ihm das Atmen schwer: Er ist schon seit einigen Tagen auf der tibetischen Hochebene in der chinesischen Provinz Qinghai, aber die Höhe strengt ihn immer noch an. Vor ihm steigt der Hauptpass des Bayan-Har-Gebirges auf über 4.800 m an, eine der Quellen des Gelben Flusses entspringt hier; ein Gipfel weiter hinten, für die Augen trügerisch nah aber nur auf beschwerlichem Fußmarsch zu erreichen, ist 5.085 m hoch.
Die Landschaft ist märchenhaft: grüne Weiten bis zum Horizont, unterbrochen von glitzernden, eisigen Seen. Aber Raul behält den Boden im Auge, denn er ist Bodenforscher und dies ist kein touristischer Ausflug: Er ist auf dem Weg zu einem Messstandort, um Daten von Sensoren herunterzuladen, die zur Registrierung der Bodentemperatur in einer Tiefe von etwa fünf Zentimetern installiert wurden. 39 solcher Standorte sind über ein Gebiet von 150 Quadratkilometern verteilt.

„Ich mag es, die Autobahn mit ihren Lastwagen hinter mir zu lassen und loszuwandern, nur noch auf die Geräusche der Natur zu hören“, sagt Raul Serban, Doktorand in periglazialer Geomorphologie an der Westuniversität in Timisoara und derzeit Forschungsstipendiat bei Eurac Research: „Die kleinen Wasserflächen, die über die Hochebene verstreut sind, werden Thermokarst-Seen genannt; sie sind in der Tat wunderschön, für mich aber auch ein Alarmzeichen. Denn sie entstehen, wenn der Permafrostboden auftaut, was bedeutet, dass die Klimaerwärmung auch den Boden trifft.“

© | Mihaela Șerban

"Die Thermokarst-Seen sind in der Tat wunderschön, für mich aber auch ein Alarmzeichen. Denn sie entstehen, wenn der Permafrostboden auftaut, was bedeutet, dass die Klimaerwärmung auch den Boden trifft."

Raul Serban

Von 2019 bis 2020 sammelte Raul Serban mit Forscherkolleginnen und -kollegen auf dem tibetischen Hochplateau Daten, die zeigten, dass die Temperatur der oberen Bodenschicht zwischen -4,7 und 2,3 °C schwankt, mit beträchtlichen Unterschieden je nach Höhe und Vegetationsbedeckung. Diese Temperaturen sind zwar immer noch niedrig, aber sie sind nicht niedrig genug. Dass Thermokarstseen entstehen, ist an sich schon kein positives Zeichen: Es zeigt, dass Permafrost aufgetaut ist und sich nicht neu gebildet hat. Doch kann die Situation sich noch verschlimmern: Taut der Permafrostboden weiter auf, versickert das Wasser unterirdisch und die Seen mit ihren Wasserreserven werden buchstäblich von der Erde „verschluckt“. In dem Gebiet des tibetischen Plateaus, das Raul Serban und seine Kollegen untersuchten, ging die Zahl der Thermokarstseen zwischen 1985 und 2015 um 40 Prozent zurück, und ihre Fläche schrumpfte um 25 Prozent. Da Thermokarstseen fast die Hälfte der Gewässer in der Region ausmachen, ist mit ihnen eine wertvolle Wasserquelle verloren gegangen, und die hydrogeologischen und biologischen Prozesse sind irreparabel gestört.
Thermokarstseen sind wie ein Schwanengesang des Ökosystems, das noch einmal alles an Schönheit und Ressourcen gibt, bevor es verschwindet.

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Die Sensoren wurden sowohl in steinigem Gelände,© - Raul-David Șerban
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als auch in der Umgebung von Thermokarstseen installiert.© - Mihaela Șerban
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Um die Sensoren zu positionieren, bohren die Forscher ein Loch von einigen Zentimetern Durchmesser in den Boden; da er stellenweise gefroren ist, geht das nicht immer schnell...© - Mihaela Șerban
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Die Sensoren, nicht größer als ein Fingernagel, werden mit Klebeband an einem starren Draht befestigt, damit sie beim Versenken im Boden nicht verloren gehen;© - Mihaela Șerban
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sie werden in fünf bis zehn Zentimeter Tiefe installiert.© - Mihaela Șerban
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Einmal im Boden, ist an der Oberfläche nur noch die Schleife des Drahts zu sehen - lokalisiert werden die Sensoren mittels GPS-Koordinaten. Sie registrieren die Temperaturdaten in regelmäßigen Abständen von drei Stunden.© - Mihaela Șerban
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In regelmäßigen Abständen, etwa einmal im Jahr, laden die Forscher die Daten mit Hilfe eines Computers herunter; dazu graben sie die Sensoren vorübergehend aus, danach versenken sie sie wieder an der gleichen Stelle.© - Raul-David Șerban
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Der Bayan-Har-Pass im gleichnamigen Gebirge auf dem tibetischen Hochplateau, in der chinesischen Provinz Qinghai. In der Nähe befindet sich eine der Quellen des Gelben Flusses. Auf dem Highway G214 überqueren täglich schwere Lastwagen den Pass.© - Raul-David Șerban
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Der höchste Punkt, an dem ein Sensor zur Messung der Oberflächentemperatur (GST- Ground Surface Temperature) angebracht wurde, liegt auf 5.085 Metern.© - Raul-David Șerban
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Ein verschwindender Thermokarst-Teich. Der Permafrost taut in immer größerer Tiefe auf, und das Wasser wird unterirdisch abgeleitet: Die Teiche oder Seen mit ihren Wasserreserven werden buchstäblich von der Erde verschluckt.© - Raul-David Șerban

Die Temperatur der obersten Bodenschicht (GST)


Die Temperatur der obersten Bodenschicht (GST, Ground Surface Temperature) wird in einer Tiefe von fünf bis zehn Zentimetern registriert. Sie misst zwar nicht den Permafrost im engeren Sinne, ist aber von entscheidender Bedeutung, um seine Wärmeentwicklung besser zu verstehen, sowie Veränderungen in der so genannten „aktiven Schicht“ des Bodens (die Bodenschicht, die saisonal auftaut und wieder gefriert) und des Bodens im Allgemeinen.

Die Risiken

Wenn die Lufttemperatur der bekannteste Parameter ist, um die Klimaerwärmung vor Augen zu führen, so ist die Bodentemperatur vielleicht der dramatischste. Tatsächlich ist die Bodentemperatur ein guter Indikator dafür, was unter uns geschieht, und „der Boden ist das Gedächtnis der Vergangenheit. Je weiter man in die Tiefe vordringt, desto mehr erfährt man über die Bedingungen von vor Hunderten von Jahren ", erklärt Giacomo Bertoldi, ein Umweltingenieur, der bei Eurac Research seit Jahren den hydrogeologischen Kreislauf in den Alpen untersucht. „Wenn die Klimaveränderungen auch in der Bodentemperatur sichtbar werden, bedeutet dies, dass sie schon sehr tiefgreifend sind und noch lange die Rechnung präsentieren werden.“ An den meisten der weltweit überwachten Standorte ist die Temperatur des Permafrosts in einer Tiefe von 10-20 Metern seit Mitte der 1970er Jahre um Werte zwischen 0,5 bis 3 °C gestiegen. An einigen Standorten blieb sie konstant, ein Rückgang war nirgendwo zu verzeichnen.

Auf der tibetischen Hochebene in der Provinz Qinghai beschäftigen die „Chinesische Akademie der Wissenschaften“ ganz konkrete Sorgen. Instabiler Untergrund wegen steigender Bodentemperaturen bedroht die technische Infrastruktur, angefangen bei der Autobahn, entlang derer Sensoren zur Überwachung angebracht wurden. Zu befürchten sind vor allem Erdrutsche und das Absinken tragender Stützen. „Was unter der Erde geschieht, bleibt leicht unbemerkt, kann aber zu kritischen Situationen führen, auch hier in den Alpen", so Giacomo Bertoldi. „Das aufsehenerregendste Beispiel sind Felsstürze: Dazu kommt es, wenn sich zwei Bodenschichten voneinander lösen und die obere abrutscht, weil der Zusammenhalt durch das Eis fehlt.“ Das kann auf einem einsamen Gipfel passieren, aber auch in der Nähe von Infrastrukturen, oberhalb eines bebauten Gebiets oder an einem Bergvorsprung, auf dem Seilbahnmasten stehen...
Und die hydrogeologischen Risiken sind nicht die einzigen. Welche Rolle der Boden im Kreislauf von Kohlenstoff und anderen Treibhausgasen spielt, ist noch nicht genau erforscht. Sicher ist jedoch, dass das Tauen des Permafrosts Methan und andere Treibhausgase freisetzt, und dass dabei auch organisches Material auftaut, darunter Krankheitserreger, die noch aktiv sein können – wie ein Milzbrandausbruch in Sibirien im Jahr 2016 zeigte. Und wenn Landschaft und Höhenlage die Bodentemperatur beeinflussen (wo es Vegetation gibt, ist sie im Allgemeinen niedriger, weil die Vegetation vor der Sonneneinstrahlung schützt), so gilt auch umgekehrt: Die Temperatur des Bodens bedingt seine Nutzung, etwa in der Landwirtschaft. Die Überwachung hilft also, bewusstere Entscheidungen zu treffen.
Das Auftauen des Permafrosts wirkt sich auch auf die Verfügbarkeit von Wasser flussabwärts aus: Wenn sich beispielsweise in Tibet das saisonale Abflussregime im Quellgebiet des Gelben Flusses ändert, sind davon Hunderte Millionen Menschen betroffen.

Von China in die Alpen und zurück

Die geografische Breite ist zwar in etwa dieselbe (45°), doch was Höhe, Temperatur und Vegetation angeht, so unterscheiden sich die Hochebene, in der der Gelbe Fluss entspringt, und die Alpen, konkret das Matschertal im Vinschgau, zweifellos sehr. Derzeit verbindet sie ein Forschungsvorhaben, das darauf abzielt, die Temperatur der obersten Bodenschicht effizienter zu überwachen. „Die traditionelle Methode sind Bohrkerne, aber sie sind sehr teuer und man erhält keinen Gesamtüberblick", erklärt Raul Serban. „Auf der tibetischen Hochebene haben wir ein innovativeres System verwendet, das bereits in den Karpaten getestet wurde; dabei werden unterirdische Sensoren eingesetzt, die die Temperatur in regelmäßigen Abständen von drei Stunden aufzeichnen.“ Im Matschertal erwarten die Forscherinnen und Forscher noch einen weiteren Schritt voranzukommen, nämlich ein Modell zur Vorhersage der Bodentemperatur zu entwickeln, das sich auf verschiedene Quellen stützt: Bodendaten, Satellitenbilder und hydrogeologische Modelle. „Auf diese Weise wollen wir große Gebiete genau überwachen und die Unterschiede zwischen verschiedenen Höhenlagen und Bodentypen aufzeigen", erklärt Raul Serban.
Das Modell, das in den kommenden Monaten im Matschertal entwickelt wird, soll anschließend auf der tibetischen Hochebene getestet werden, um seine Zuverlässigkeit auf der ganzen Welt zu prüfen.

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Wissenschaftliche Publikationen zu den Thermokarstseen

Das Projekt TEMPLINK wird von der Autonomen Provinz Bozen über das „Seal of Excellence“-Programm finanziert.

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