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„Unsere Daten zeigen keinen Einfluss des Kraftwerks auf die Gewässerökologie“

Der Biologe Alberto Scotti hat die Kleinlebewesen im Saldurbach im Matschertal vor und nach dem Bau eines Laufkraftwerks untersucht – und keine Veränderung bemerkt.

by Barbara Baumgartner

Seit 2009 wird der Saldurbach im Matschertal im Rahmen ökologischer Langzeitforschung regelmäßig beprobt. 2015 wurde an dem gletschergespeisten Gebirgsbach ein Laufkraftwerk gebaut. Würde es die Ökologie des Gewässers verändern? Für die Forscher tat sich eine einmalige Möglichkeit auf, Vorher und Nachher zu vergleichen. Nun veröffentlichten sie ihre Studienergebnisse – eine Auswirkung des Kraftwerks zeigen sie nicht.

Warum sind Makroinvertrebraten für die ökologische Forschung interessant?

Alberto Scotti: Kleine wirbellose Tiere wie Insektenlarven, Würmer oder Krustentiere geben sehr gut Auskunft über den ökologischen Zustand eines Gewässers und seinen Wandel, denn sie reagieren rasch auf Veränderungen der Umgebung, und ihre Lebenszyklen sind lang genug, um Rückschlüsse auf Entwicklungen zu erlauben. Die Gemeinschaft der kleinen Flussbewohner spiegelt deshalb gut die Wirkung aller Umweltfaktoren über einen längeren Zeitraum.

In fünf Jahren regelmäßiger Beprobung haben sie 35.000 dieser Tierchen im Saldur bestimmt – man kann sagen, Sie kennen den Zustand des Baches ziemlich genau?

Scotti: Seit 2009 beproben wir den Saldurbach regelmäßig einmal im Monat, von April bis September. Die jetzt veröffentlichten Daten umfassen die Jahre 2015 bis 2019 – das letzte Jahr vor dem Kraftwerksbau und die vier Jahre danach, jeweils die Proben von Mai und September: In den Monaten dazwischen hat das Schmelzwasser des Gletschers zu großen Einfluss. Das Ungewöhnliche ist aber nicht die Zahl der Organismen, also die 35.000, sondern die Genauigkeit, mit der wir sie bestimmt haben: Bei 30 Prozent die Art, bei 48 Prozent die Gattung und bei 22 Prozent die Familie. Sonst bleiben Untersuchungen ganzer Gemeinschaften meist nur auf der Ebene Familie.

I campionamenti di piccoli invertebrati nel Rio Saldura © Eurac Research | Ivo Corrà

Außerordentlich an der Studie ist auch, dass Sie aus der Zeit vor dem Kraftwerk schon sehr detaillierte Daten hatten, mit denen Sie die Situation nach dem Bau vergleichen konnten.

Scotti: Das waren tatsächlich sehr außergewöhnliche Umstände, die diese Studie ziemlich einmalig machen. Um die möglichen Auswirkungen des Kraftwerks zu identifizieren, haben wir zudem für die Beprobungen fünf verschiedene Stellen gewählt, die alle auf unterschiedlicher Weise von der Kraftwerksanlage beeinflusst sind, und einen völlig unbeeinflussten Vergleichspunkt: So konnten wir unterscheiden, ob Schwankungen im Vorkommen bestimmter Lebewesen eine natürliche Ursache hatten, etwa besondere Witterungen, oder ob sie mit dem Kraftwerk zusammenhingen.

"Das waren tatsächlich sehr außergewöhnliche Umstände, die diese Studie ziemlich einmalig machen"

Was war das Ergebnis?

Scotti: Unsere Daten zeigen keine auf das Kraftwerk zurückzuführende Veränderung. Zwar gab es zum Teil beträchtliche Variabilität – es konnte etwa vorkommen, dass wir von einer Art plötzlich 300mal so viele Exemplare fanden wie in anderen vergleichbaren Monaten –, aber diese Zunahme war dann überall zu beobachten, auch dort, wo der Bach vom Kraftwerk in keiner Weise beeinflusst ist.

Hat Sie das überrascht?

Scotti: Dass überhaupt keine Auswirkung festzustellen ist, habe ich nicht erwartet. Aber überrascht kann man nicht sagen, denn eine Studie dieser Art, an einem Gebirgsbach mit Kleinkraftwerk, gab es bislang nicht. Bisherige Untersuchungen wurden zum Beispiel in flacherem Gelände gemacht, wo der Rückstau durch ein Kraftwerk wesentlich größer ist, oder an Wasserläufen mit mehreren Kraftwerken hintereinander. Die Ergebnisse waren widersprüchlich, und sie hatten auch begrenzte Aussagekraft, da es keine detaillierten Vergleichsdaten aus der Zeit vor dem Kraftwerksbau gab.

Das kleine Laufkraftwerk am Saldurbach, von oben gesehen © Wieser Media | Christoph Wieser

Kann man solche Kleinkraftwerke also ruhigen Gewissens bauen?

Scotti: Unsere Studie liefert keinen Grund, sie unter Bedingungen wie am Saldur abzulehnen: also an einem steilen Gebirgsbach, in dem keine Fische leben – mit Fischen wäre die Situation natürlich eine ganz andere. Und solche Bedingungen hat man im Alpenraum sehr häufig. Die Diskussion um Kleinkraftwerke wird oft vehement geführt, bislang aber ohne wissenschaftliche Daten. Die Studie am Saldur füllt hier eine Lücke. Das ist deshalb sehr wichtig, weil Wasserkraft immer wichtiger wird: Will man die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreichen, muss die weltweite Energiegewinnung aus Wasserkraft laut der International Renewable Energy Agency bis 2030 um 25 Prozent zunehmen, bis 2050 um 60 Prozent. Große Staudämme, deren negative Wirkungen hinreichend erwiesen sind, werden in den meisten Teilen der Welt nicht mehr akzeptiert. Also wird man, unter anderem, in großer Zahl Kleinkraftwerke bauen, und muss entscheiden, wo dies vertretbar ist und wie die Kraftwerke gebaut sein müssen. Unsere Daten sind da ein wertvoller Anhaltspunkt. Mit ruhigem Gewissen also nicht, aber „gewissenhaft“, unter bestimmten Bedingungen, ja.

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I paper scientifici

Die Ergebnisse der Untersuchung wurden, aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln analysiert, in der Fachzeitschrift Frontiers in Environmental Science publiziert. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fenvs.2022.902603/full und https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fenvs.2022.904547/full.

Die umfangreiche Datensammlung wurde der Forschungsgemeinschaft in einer eigenen Veröffentlichung zugänglich gemacht: https://www.nature.com/articles/s41597-021-00887-x

Alberto Scotti

Der Limnologe Alberto Scotti ist in Mailand geboren aber hat Südtirol zu seiner Wahlheimat gemacht. Am Institut für alpine Umwelt von Eurac Research erforscht er, wie menschliche Eingriffe, der Klimawandel eingeschlossen, den ökologischen Zustand von Gebirgsgewässern beeinflussen. Unter anderem zeigt eine seiner Studien, wie die Artenvielfalt in Gebirgsbächen leidet, wenn Almweiden aufgegeben werden.

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